Toechter Aus Shanghai
liebevollen Klapse. May weiß also ganz genau, was sie tut, als sie unseren Vater berührt. Während ihn das noch sichtlich irritiert, saust sie schon davon, und ich laufe ihr rasch nach. Wir sind ein paar Schritte weit gekommen, da ruft Baba uns nach:»Bitte bleibt hier!«
Aber wie üblich lacht May einfach nur. »Wir arbeiten heute Nacht. Warte nicht auf uns.«
Ich steige hinter ihr die Treppe hinauf, und die Stimmen unserer Eltern begleiten uns wie ein misstönendes Lied. Mama singt die Melodie: »Eure Ehemänner tun mir jetzt schon leid. ›Ich brauche Schuhe.‹ ›Ich will ein neues Kleid.‹ ›Kaufst du uns Opernkarten?‹« Baba sorgt mit seiner tieferen Stimme für den Bass: »Kommt zurück! Bitte kommt zurück! Ich muss euch etwas sagen.« May ignoriert sie, und ich versuche es ebenfalls. Ich bewundere, wie sie die Ohren vor den Worten und der Beharrlichkeit unserer Eltern verschließen kann. Da ist sie ganz anders als ich, wie auch sonst in vielerlei Hinsicht.
Immer wenn es zwei Schwestern gibt - oder Geschwister jeglicher Zahl, ganz gleich welchen Geschlechts - werden Vergleiche angestellt. May und ich wurden im Dorf Yin Bo geboren, weniger als einen halben Tagesmarsch von Kanton entfernt. Wir sind nur drei Jahre auseinander, aber wir könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie ist ein fröhlicher Typ; mir wird vorgeworfen, zu düster zu sein. May ist klein und hat bezaubernde Rundungen; ich bin groß und dünn. May, die gerade die Schule abgeschlossen hat, liest nichts außer den Klatschspalten; ich habe vor fünf Wochen den Abschluss am College gemacht.
Die erste Sprache, die ich lernte, war Sze Yup, der Dialekt, der in den Vier Bezirken der Kwangtung-Provinz gesprochen wird, aus der unsere Familie stammt. Seit meinem fünften Lebensjahr hatte ich amerikanische und britische Lehrer, daher ist mein Englisch so gut wie perfekt. Ich beherrsche vier Sprachen fließend - britisches Englisch, amerikanisches Englisch, den Sze-Yup-Dialekt (einen von vielen kantonesischen Dialekten) und den Wu-Dialekt (eine besondere Variante des Mandarin, die nur in Shanghai gesprochen wird). Ich lebe in einer internationalen Stadt, daher benutze ich die englischen Namen der chinesischen Städte und Gegenden wie Kanton, Chungking und Yunnan; ich verwende die kantonesische Bezeichnung cheongsam statt ch’i pao , wie es auf
Mandarin heißt, für unsere chinesischen Kleider, ich sage britisch boot statt amerikanisch trunk , ich sage abwechselnd fan gwaytze - »ausländische Teufel« - auf Mandarin und lo fan - »weiße Geister« - auf Kantonesisch, wenn ich von Ausländern rede, und ich gebrauche das kantonesische Wort für »kleine Schwester« - moy moy -, statt auf Mandarin mei mei zu sagen, wenn ich von May spreche. Meine Schwester ist sprachlich völlig unbegabt. Wir sind nach Shanghai gezogen, als May noch ein Säugling war, und bis auf ein paar Bezeichnungen für bestimmte Gerichte und Zutaten hat sie nie Sze Yup gelernt. May kann nur Englisch und den Wu-Dialekt. Abgesehen von den üblichen dialektalen Eigenheiten haben Mandarin und Kantonesisch ungefähr so viel gemein wie Englisch und Deutsch - sie sind miteinander verwandt, aber wer die andere Sprache nicht gelernt hat, versteht sie nicht. Deshalb nutzen meine Eltern und ich manchmal Mays Unwissenheit aus und sprechen Sze Yup, um sie außen vor zu lassen.
Mama behauptet steif und fest, May und ich könnten uns nicht ändern, selbst wenn wir es versuchten. May ist angeblich so selbstzufrieden wie das Schaf, in dessen Jahr sie geboren wurde. Das Schaf ist das weiblichste aller Sternzeichen, sagt Mama. Es ist modebewusst, künstlerisch veranlagt und mitfühlend. Das Schaf braucht jemanden, der sich um es kümmert, damit es immer sicher sein kann, Nahrung, Obdach und Kleidung zu haben. Gleichzeitig ist das Schaf dafür bekannt, dass es andere mit seiner Zuneigung erstickt. Das Glück lächelt auf das Schaf herab, weil es so ein friedliches Wesen und ein gutes Herz hat, aber - und das ist laut Mama ein großes Aber - manchmal denkt das Schaf nur an sich selbst und seinen Vorteil.
In mir steckt das Streben und Trachten eines Drachen, das nie ganz befriedigt werden kann. »Es gibt keinen Ort, den du mit deinen großen Füßen nicht erreichen könntest«, sagt Mama oft zu mir. Doch der Drache, das mächtigste aller Sternzeichen, hat auch seine Schattenseiten. »Ein Drache ist loyal, fordernd, verantwortungsbewusst, er meistert das Schicksal«, hat Mama mir
gesagt, »aber
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