Toechter Aus Shanghai
trägt sie einen Armreif aus einem einzigen Stück hochwertiger Jade. Wenn er auf die Tischkante trifft, macht es ein beruhigendes, vertrautes Klack . Sie hat gebundene Füße und verhält sich in manchen Dingen ebenso altmodisch. Sie deutet unsere Träume, überlegt, ob es wohl ein gutes oder schlechtes Omen ist, wenn darin Wasser, Schuhe oder Zähne vorkommen. Sie glaubt an Astrologie. Sie rügt oder lobt May und mich für alle möglichen Dinge, nur weil wir im Jahr des Schafs beziehungsweise im Jahr des Drachen geboren wurden.
Mama führt ein glückliches Leben. Die arrangierte Ehe mit meinem Vater verläuft einigermaßen friedlich. Morgens liest sie buddhistische Sutras, lässt sich mit einer Rikscha zum Mittagessen bei Freundinnen fahren, spielt bis in den späten Nachmittag hinein Mah-Jongg und klagt mit Ehefrauen ähnlicher Stellung über das Wetter, phlegmatische Dienstboten oder über die Wirkungslosigkeit der neuesten Mittelchen gegen Schluckauf, Gicht oder Hämorrhoiden. Sie hätte eigentlich keinen Grund, missmutig zu sein, und doch sind all ihre Geschichten von leiser Verbitterung und ständiger Sorge durchtränkt. »Es gibt kein glückliches Ende«, sagt sie oft. Trotzdem ist sie eine schöne Frau,
und ihr Liliengang ist so anmutig wie das Schwanken von jungem Bambus im Frühlingswind.
»Der faule Diener von nebenan hat den Nachttopf der Familie Tso überschwappen lassen, und jetzt stinkt es in der ganzen Straße nach Jauche«, sagt Mama. »Und dann Koch!« Sie gestattet sich ein missbilligendes Zischeln. »Die Garnelen, die uns Koch vorgesetzt hat, waren alt, und der Geruch hat mir völlig den Appetit verdorben.«
Wir widersprechen ihr nicht, aber dieser erstickende Gestank stammt nicht von einem umgekippten Nachttopf oder alten Garnelen, sondern von ihr. Da unsere Diener nicht da sind, um die Luft im Raum zu bewegen, steigt mir der Geruch der mit Blut und Eiter vollgesogenen Bandagen um Mamas gebundene Füße so in die Nase, dass ich würgen muss.
Mama klagt unablässig weiter, bis Baba sie unterbricht. »Ihr Mädchen könnt heute Abend nicht ausgehen. Ich muss mit euch reden.«
Dabei schaut er May an, die ihm ihr strahlendstes Lächeln schenkt. Wir sind keine schlechten Mädchen, aber wir haben Pläne für den Abend. Und dazu gehört bestimmt kein Vortrag von Baba, wie viel Wasser wir im Bad verschwenden oder dass wir nicht jedes Reiskörnchen in unseren Schalen aufessen. Normalerweise reagiert Baba auf Mays Charme, erwidert ihr Lächeln und vergisst, was er sagen wollte, doch diesmal blinzelt er nur ein paarmal und richtet seine schwarzen Augen auf mich. Wieder sacke ich auf meinem Stuhl zusammen. Manchmal glaube ich, dass ich meinen Eltern nur dann wahren kindlichen Respekt entgegenbringe, wenn ich mich vor meinem Vater klein mache. Ich betrachte mich als modernes Shanghaier Mädchen und mag nicht an diesen ganzen Unsinn vom bedingungslosen Gehorsam glauben, den man den Mädchen in der Vergangenheit eingebläut hat. Aber es ist nun einmal so: May - sosehr unsere Eltern sie auch anhimmeln - und ich sind nur Mädchen. Keine von uns wird den Familiennamen weitergeben, und keine von uns
wird unsere Eltern später einmal als Ahnen verehren. Mit meiner Schwester und mir endet die Linie Chin. Als wir noch klein waren, hatten unsere Eltern wegen unseres geringen Werts kein Interesse daran, uns zu erziehen. Wir waren der Mühe und Anstrengung nicht wert. Später passierte dann etwas Merkwürdiges: Meine Eltern fanden plötzlich Gefallen an ihrer jüngeren Tochter - sie waren völlig vernarrt in sie. Dadurch konnten wir uns ein gewisses Maß an Freiheit bewahren, und es fiel meistens gar nicht auf, dass meine Schwester verwöhnt war oder wir manchmal jeglichen Respekt und unsere Pflicht vergaßen. Was andere vielleicht als respektlos und ungezogen betrachten würden, bezeichnen wir als modern und unabhängig.
»Nicht eine Kupfermünze bist du wert«, sagt Baba mit schneidender Stimme zu mir. »Ich weiß nicht, wie ich dir jemals...«
»Ach, Ba, jetzt hör doch auf, an Pearl herumzunörgeln. Du kannst dich glücklich schätzen, so eine Tochter zu haben. Und ich noch viel mehr, weil sie meine Schwester ist.«
Alle Blicke richten sich auf May. So ist das mit ihr. Wenn sie spricht, muss man ihr einfach zuhören. Wenn sie im Raum ist, muss man sie einfach ansehen. Alle lieben sie - unsere Eltern, die Rikschajungen, die für meinen Vater arbeiten, die Missionare, die uns in der Schule unterrichtet haben,
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