Toechter Aus Shanghai
biegen wir in die Bubbling Well Road ein. Er trabt den eleganten Boulevard entlang, ohne Furcht vor den schnurrenden Chevrolets, Daimler und Isotta-Fraschinis, die vorbeischießen. An einer Ampel flitzen Bettlerkinder auf die Straße, umrunden unsere Rikscha und zerren an unseren Kleidern. Jeder Häuserblock trägt den Geruch von Tod und Verfall, von Ingwer und gebratener Ente, von französischem Parfüm und Räucherstäbchen herüber. Die lauten Stimmen der hier geborenen Shanghaier, das ständige Klick-klick des Abakus und das Rattern der durch die Straßen rollenden Rikschas bilden die Hintergrundgeräusche, die mir sagen, dass hier unser Zuhause ist.
An der Grenze zwischen der Internationalen Siedlung und der Französischen Konzession hält der Rikschajunge an. Wir zahlen ihn, überqueren die Straße, weichen einem toten Baby aus, das auf dem Gehsteig liegen gelassen wurde, suchen uns einen Rikschafahrer mit einer Lizenz für die Französische Konzession und nennen ihm die Adresse von Z. G., eine Straße, die von der Avenue Lafayette abgeht.
Dieser Fahrer ist noch schmutziger und verschwitzter als der vorherige. Sein zerlumptes Hemd verbirgt kaum seinen Körper, der nur noch ein Gerüst mit hervortretenden Knochen ist. Er zögert, bevor er sich in die Avenue Joffre hineintraut. Der Name ist zwar französisch, aber die Straße ist der Lebensmittelpunkt
der Weißrussen. Über den Läden hängen Schilder in kyrillischer Schrift. Wir atmen den Duft von frischem Brot und Kuchen aus den russischen Bäckereien ein. Aus den Clubs dringt schon Musik, es wird getanzt. Als wir uns der Wohnung von Z. G. nähern, ändert sich die Umgebung erneut. Wir kommen an der Seeking Happiness Lane vorbei, in der es mehr als 150 Bordelle gibt. Aus dieser Straße werden jedes Jahr viele von Shanghais »Berühmten Blumen« - die talentiertesten Prostituierten der Stadt - für die Titelseiten von Zeitschriften ausgewählt.
Unser Fahrer lässt uns aussteigen, wir zahlen. Während wir die wackeligen Stufen zum zweiten Stock des Mietshauses erklimmen, in dem Z. G. wohnt, fahre ich mit den Fingerspitzen durch die Locken, die ich mir hinter den Ohren festgesteckt habe, drücke die Lippen zusammen, um den Lippenstift besser zu verteilen, und richte meinen cheongsam , damit mir der seidene Schrägschnitt wieder perfekt über die Hüften fällt. Wenn Z. G. die Tür öffnet, bin ich jedes Mal aufs Neue überrascht, wie gut er aussieht: schmaler Körperbau, ein voller, ungebärdiger schwarzer Haarschopf, eine große, runde Nickelbrille, Blick und Gebaren so intensiv, dass sie von langen Nächten, einer Künstlernatur und politischer Inbrunst künden. Ich mag zwar groß sein, aber er überragt mich noch. Das gehört zu den vielen Dingen, die ich an ihm liebe.
»Was ihr da anhabt, ist perfekt«, freut er sich. »Kommt herein! Kommt herein!«
Wir wissen nie genau, was er für unsere Sitzung geplant hat. In letzter Zeit waren junge Frauen populär, die in einen Pool springen, Minigolf spielen oder einen Bogen spannen, um einen Pfeil in den Himmel zu schicken. Fit und gesund sein, das ist das Ideal. Wer ist am besten dafür geeignet, die Söhne Chinas aufzuziehen? Die Antwort: eine Frau, die Tennis spielen, Auto fahren und eine Zigarette rauchen kann und dennoch so offen, elegant und verführerisch aussieht wie möglich. Wird Z. G. uns bitten, so zu tun, als würden wir gleich zu einem nachmittäglichen Tanztee gehen?
Oder wird er etwas völlig anderes im Sinn haben, für das wir in geliehene Kostüme schlüpfen müssen? Wird May zu Mulan werden, der großen Kriegerin, die wieder zum Leben erweckt wurde, um für Parrot-Wein zu werben? Werde ich als das Mädchen Du Liniang aus dem Theaterstück Der Päonienpavillon gemalt, um die Vorzüge von Lux-Toilettenseife anzupreisen?
Z. G. führt uns zu dem Bühnenbild, das er für heute aufgebaut hat: eine gemütliche Ecke mit einem Polstersessel, einem kunstvoll geschnitzten chinesischen Wandschirm und einem mit komplizierten Knotenmustern verzierten Tontopf, in dem ein paar blühende Pflaumenzweige die Illusion von freier Natur und Frische vermitteln.
»Heute verkaufen wir My-Dear-Zigaretten«, verkündet Z. G. »May, ich hätte gerne, dass du dich in den Sessel setzt.« Sobald sie sitzt, tritt er zurück und betrachtet sie kritisch. Ich liebe Z. G. dafür, wie behutsam und feinfühlig er mit meiner Schwester umgeht. Immerhin ist sie noch ziemlich jung, und die meisten wohlerzogenen Mädchen würden sich
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