Toechter Aus Shanghai
Locken hinter den Ohren fest, wo sie wie Pfingstrosen mit schwarzen Blütenblättern prangen. Dann kämme ich ihr die Haare, sodass die Locken ihr Gesicht umrahmen. Anschließend ergänzen wir unser Erscheinungsbild noch mit rosa Kristallohrhängern, Jaderingen und Goldketten. Unsere Blicke treffen sich im Spiegel. Durch die Kalenderbilder an der Wand vervielfältigt sich unser Spiegelbild. Wir lassen diesen hübschen Anblick einen Moment lang auf uns wirken. Wir sind einundzwanzig und achtzehn Jahre alt. Wir sind jung, wir sind schön, und wir leben im Paris Asiens.
Wir trippeln wieder nach unten, rufen rasch Auf Wiedersehen und treten hinaus in die Nacht von Shanghai. Wir wohnen im Viertel Hongkew, gleich auf der anderen Seite des Soochow Creek. Es gehört nicht zur offiziellen Internationalen Siedlung, aber die liegt so nahe, dass wir uns vor möglichen ausländischen Invasoren geschützt glauben. Wir sind nicht furchtbar reich, doch ist das nicht stets eine Frage des Maßstabs? Nach britischen, amerikanischen oder japanischen Maßstäben kommen wir gerade so zurecht, aber für chinesische Verhältnisse besitzen wir ein Vermögen, auch wenn manche unserer Landsleute hier in der Stadt wohlhabender sind als viele Ausländer. Wir sind kaoteng Huajen - höherstehende Chinesen -, die der Religion des ch’ung yang anhängen: Wir verehren alles, was aus dem Ausland kommt, wir verwestlichen unsere Namen und lieben Kinofilme, Speck und Käse. Als Mitglied der bu-er-ch’iao-ya - der Bourgeoisie - ist unsere Familie so begütert, dass unsere sieben Dienstboten auf der Eingangstreppe nacheinander ihre Mahlzeiten zu sich nehmen können. So wissen vorüberkommende Rikschafahrer und Bettler, dass man regelmäßig zu essen bekommt und ein sicheres Dach über dem Kopf hat, wenn man für die Chins arbeitet.
Wir gehen bis zur Ecke und feilschen mit mehreren hemdund schuhlosen Rikschajungen, bevor wir uns auf einen guten Preis einigen. Wir klettern in die Rikscha und setzen uns nebeneinander.
»Fahr uns zur Französischen Konzession«, weist May den Jungen an.
Seine Muskeln ziehen sich zusammen, als er die Rikscha mühsam in Bewegung setzt. Bald hat er einen angenehmen Rhythmus gefunden, und der Schwung der Rikscha nimmt ihm die Spannung von Schultern und Rücken. Er zieht uns wie ein Lasttier, aber ich fühle mich einfach frei. Wenn ich tagsüber einkaufe, Besuche mache oder Englisch unterrichte, benutze ich immer einen Sonnenschirm. Nachts muss ich mir jedoch keine Gedanken wegen meiner Haut machen. Ich sitze aufrecht und hole tief Luft. Ich werfe einen Blick zu May hinüber. Sie ist völlig unbekümmert und lässt ihren cheongsam so leichtsinnig im Wind flattern, dass er sich bis zum Oberschenkel öffnet. May ist kokett, und sie könnte ihre Qualitäten in keiner Stadt besser zur Geltung bringen als in Shanghai - ihr Lachen, ihre schöne Haut, ihren Charme bei der Konversation.
Wir überqueren den Soochow Creek auf einer Brücke und biegen dann nach rechts ab, fort vom Whangpoo mit seinem feuchten Dunst von Öl, Tang, Kohl und Abwasser. Ich liebe Shanghai. Shanghai ist anders als andere Städte in China. Statt Kacheln und geschweiften Dächern haben wir mo t’ein talou - magische hohe Häuser -, die bis in den Himmel ragen. Statt Mondtoren, Wandschirmen zur Abwehr von Geistern, kunstvollen Gitterfenstern und rot lackierten Säulen haben wir neoklassizistische Granithäuser, die mit Art-Déco-Schmiedearbeiten, geometrischen Mustern und Ätzglas verziert sind. Statt Bambushaine oder Weiden, die ihre langen Zweige in den Teich hängen lassen, bietet unsere Stadt europäische Villen mit sauberen Fassaden, eleganten Balkonen, in Reihen gepflanzten Zypressen und ordentlich gemähten Rasenflächen, gesäumt von makellos gepflegten Blumenbeeten.
In der chinesischen Altstadt gibt es noch Tempel und Gärten, aber das restliche Shanghai kniet nieder vor den Göttern des Handels, des Wohlstands, der Industrie und der Sünde. In der Stadt stehen Lagerhäuser, wo Waren auf- und abgeladen werden, es gibt Hunde- und Pferderennbahnen, zahllose Filmpaläste und Clubs, in denen man tanzen, trinken und Sex haben kann. Shanghai ist die Heimat von Millionären und Bettlern, Gangstern und Spielern, Patrioten und Revolutionären, Künstlern und Warlords, und es ist die Heimat der Familie Chin.
Unser Fahrer zieht uns durch Gassen, die gerade breit genug sind für Fußgänger, Rikschas und Schubkarren mit Bänken für zahlende Passagiere. Dann
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