Toechter Aus Shanghai
dir, meine Pearl, wird immer der Dampf, der dir aus dem Schlund steigt, den Blick vernebeln.«
Bin ich eifersüchtig auf meine Schwester? Wie soll ich auf sie eifersüchtig sein, wenn selbst ich sie anhimmle? Long - »Drache« - ist unser gemeinsamer Generationsname. Ich bin Perldrache und May ist Schöner Drache. Sie schreibt ihren Namen, wie es im Westen gebräuchlich ist, doch auf Mandarin ist mei eines der Wörter für schön , und genau das ist sie. Meine Pflicht als ihre ältere Schwester ist es, sie zu schützen, dafür zu sorgen, dass sie den richtigen Weg einschlägt, und sie nachsichtig zu behandeln, weil sie so kostbar für uns ist und in der Familie so geliebt wird. Manchmal bin ich trotzdem böse auf sie: zum Beispiel als sie, ohne mich zu fragen, einfach meine italienischen Stöckelschuhe aus pinkfarbener Seide anzog und im Regen ruinierte. Aber eines steht fest: Meine Schwester liebt mich. Ich bin ihre jie jie - ihre ältere Schwester. In der Hierarchie der chinesischen Familie werde ich immer und für alle Zeit über ihr stehen, selbst wenn mich meine Familie nicht so sehr liebt wie sie.
Als ich in unser Zimmer komme, hat sich May schon das Kleid ausgezogen, das nun als schlaffes Häuflein auf dem Boden liegt. Ich drücke die Tür hinter mir zu und schließe uns in unsere Mädchenwelt ein. Wir haben zwei identische Himmelbetten mit Baldachinen aus weißem, blau eingefasstem Leinen, bestickt mit einem Glyzinienmuster. In den meisten Schlafzimmern von Shanghai hängen Poster oder ein Kalender mit schönen Mädchen darauf, aber in unserem Zimmer gibt es mehrere davon. Wir sitzen Modell als Kalendermädchen, und für unser Zimmer haben wir uns unsere Lieblingsbilder ausgesucht: May in einer lindgrünen Seidenjacke auf einem Sofa, eine Hatamen-Zigarette in einer elfenbeinernen Zigarettenspitze in der Hand, ich sitze in einen Hermelin gehüllt, die Knie ans Kinn gezogen, in einem Säulengang vor einem mythischen See und preise Dr. Williams Pink Pills for Pale People an (wer wäre besser geeignet, solche Pillen zu verkaufen, als jemand, der von Natur aus einen rosigen
Teint hat?), und schließlich ein Bild von uns beiden, wie wir zusammen in einem eleganten Boudoir sitzen, jede mit einem dicken kleinen Jungen auf dem Arm - dem Symbol für Wohlstand und Erfolg. Wir werben für Milchpulver, um zu zeigen, dass wir moderne Mütter sind, die für ihren modernen Nachwuchs die besten modernen Erfindungen verwenden.
Ich durchquere das Zimmer und gehe zu May an den Schrank. Erst jetzt beginnt eigentlich unser Tag. Heute Nacht sitzen wir für Z. G. Li Modell, den besten der Maler, die sich auf Mädchenkalender, -poster und -werbung spezialisiert haben. Die meisten Familien wären entsetzt, wenn ihre Töchter Künstlern Modell sitzen und häufig die ganze Nacht wegbleiben würden, und unsere Eltern waren das zunächst auch. Als wir dann aber anfingen, Geld nach Hause zu bringen, hatten sie nichts mehr dagegen. Baba nahm unseren Verdienst und investierte ihn. Er meinte, wenn wir dann unsere Ehemänner kennenlernen, uns verlieben und heiraten möchten, könnten wir mit unserem eigenen Geld bei denen einziehen.
Wir wählen cheongsams , die sich ergänzen, um Harmonie und Eleganz zu versinnbildlichen, gleichzeitig verbreiten wir eine Leichtigkeit und Frische, die allen Käufern unseres Produkts Frühjahrsglück verspricht. Ich wähle einen cheongsam aus pfirsichfarbener Seide mit roten Paspeln. Das Kleid ist so eng geschnitten, dass die Schneiderin den Schlitz an der Seite gewagt hoch gezogen hat, damit ich überhaupt laufen kann. Knebelverschlüsse aus dem roten Stoff der Paspeln halten das Kleid am Hals, über der Brust, unter der Achsel und an der rechten Seite. May entscheidet sich für einen cheongsam aus blassgelber Seide mit einem Muster aus feinen weißen Blüten, die in der Mitte rot sind. Ihre Paspeln und Knebelverschlüsse sind genauso tiefrot wie meine. Der steife Mandarinkragen ihres Kleides ist so hoch, dass er ihre Ohren berührt; kurze Ärmel betonen ihre schlanken Arme. Während sich May die Augenbrauen in Form junger Weidenblätter nachzieht - lang, dünn und glatt -, tupfe ich mir weißes Reispuder auf das Gesicht, um meine rosigen Wangen zu
verbergen. Dann schlüpfen wir in rote Stöckelschuhe und tragen auch Lippenstift in einem passenden Rot auf.
Vor Kurzem haben wir uns die langen Haare abschneiden und eine Dauerwelle machen lassen. May zieht mir jetzt einen Mittelscheitel und steckt mir die
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