Töchter der Sechs (German Edition)
er mit seinem Lehrmeister an der Enträtselung der Schrift gearbeitet. Als Mawen an diesem Morgen von seinem Spaziergang zurückkehrte, hielt Ruwen eine Überraschung für ihn bereit. Er saß bereits beim Frühstück, das ihnen wie immer von den Hausangestellten im Salon ihrer Zimmerflucht serviert worden war, und sein Gesicht zeigte ein schalkhaftes Lächeln, das doch recht untypisch für ihn war. Nur selten zeigte der Gelehrte, der bestimmt schon fünfzig Sommer gesehen hatte, Gefühle. Nur während seiner Arbeit ließ er sich bisweilen zu Gefühlsregungen hinreißen. „Was habt Ihr?“, fragte Mawen.
„Setzt Euch und esst. Wir haben einen aufregenden Tag vor uns. Wir nehmen uns heute mal frei. Ihr wolltet doch schon lange Aaran erkunden. Und etwas Ablenkung bringt uns vielleicht auf neue Ideen, wie wir unser Problem angehen können.“
Mawen war so überrascht, dass er nichts zu sagen wusste. Er setzte sich und aß mit Appetit. Heute würde er endlich Aaran entdecken können. Ob ein Tag dafür überhaupt ausreichen würde?
Sie hatten sich ziellos durch die Gassen Aarans treiben lassen. Hin und wieder waren sie stehen geblieben, um ein Gebäude oder einen Platz zu betrachten. Ruwen, der die Stadt bereits mehrere Mal besucht hatte, hatte Mawen an seinem reichen Wissen über die Hauptstadt teilhaben lassen. Ihr Mittagsmahl hatten die beiden an einem Stand auf dem Markt gekauft und im Gehen verzehrt. Als es Abend wurde, traf es sich, dass sie plötzlich vor dem Tempel stand, dessen weißer Marmor in der Abendsonne erstrahlte. Bald würden die Tore des Tempels für die Nacht geschlossen werden.
„Lasst uns hineingehen, Meister. Ich würde mir den Würfel gerne nochmals anschauen.“
Ruwen nickte nur und begleitete Mawen in den Tempel.
Eine der Priesterinnen erkannte die beiden und nickte ihnen zu. Sie würden also sicher auch nach Schließung des Tempels bleiben dürfen. Nachdem er den Tag über von ihren Forschungen abgelenkt gewesen war, spürte Mawen nun neuen Elan, das Rätsel zu lösen. Er hatte das Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben. Dicht vor dem Heiligen Würfel ließ er sich auf dem Boden nieder. Konzentriert betrachtete er die Schriftzeichen, während sich der Tempel langsam leerte und die Tore geschlossen wurden. Er hörte, wie sein Lehrer leise mit einer der Priesterinnen sprach. Die Zeichen begannen vor seinen Augen zu verschwimmen, sodass Mawen plötzlich das Gefühl hatte, auf eine leere schwarze Fläche zu schauen. 'So musste der Würfel noch vor wenigen Monden ausgesehen haben', dachte er, 'bis die junge Priesterin … Aber natürlich, warum war ihm da nicht früher eingefallen. Möglicherweise war sie der Schlüssel.'
Er drehte sich zu Ruwen um, der etwas abseits Platz genommen hatte. „Erinnert Ihr euch an die junge Priesterin, die dies hier bewirkt hat?“
„Aber sicher. Worauf wollt Ihr hinaus?“
„Sie murmelt doch immer, wenn sie den Würfel berührt. Was ist, wenn dies keine zufälligen Worte sind, sondern sie die ausspricht, die ihre Hand berührt? Dann könnten wir den Buchstaben Laute zuordnen. Vielleicht können wir über den Klang der Worte ihre Bedeutung ergründen.“
„Nun, einen Versuch wäre es wert. Warum ist mir dies nicht in den Sinn gekommen?“
„Gut, dann lasst uns zur Oberpriesterin gehen und ihr unseren Vorschlag unterbreiten.“
„Das wird nicht nötig sein“, erklang es aus einer Nische. Amüsiert beobachtete Yerina, wie sich die Köpfe der beiden Gelehrten in ihre Richtung drehten. Sie öffnete die mit Ornamenten durchbrochene Holztür der Nische, von der aus sie schon den ganzen Nachmittag das Treiben im Tempel beobachtet hatte. Immer wieder gerne nutzte sie diese Nischen, um sich einen Eindruck von den Vorgängen im Tempel zu machen, ohne dabei selbst gesehen zu werden. Als Ruwen und Mawen am Abend eingetreten waren, hatte ihre Neugier sie zum Bleiben verleitet und sie war belohnt worden. Sie hatte selbst erleben können, was für ein kluger Kopf Mawen war. Sie würde Peria und Jeven in ihrem nächsten Brief davon berichten.
„Eure Idee ist wirklich gut, ich werde Zada sogleich holen, damit Ihr sie in der Praxis überprüfen könnt.“
Die beiden Angesprochenen hatten sich inzwischen von dem überraschenden Auftauchen der Oberpriesterin erholt und Ruwen antwortete: „Das wird nicht nötig sein. Wenn es Euch recht ist, werden wir erst morgen damit beginnen, da wir unsere Abschriften und Schreibutensilien
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