Töchter der Sechs (German Edition)
Pflichten erlaubten, mit Tharet. Er erzählte ihr von den aktuellen Entwicklungen in der Politik, sie gab ihm im Gegenzug nützliche Hinweise zur Stimmung und zu den Problemen des Volkes. Durch die seelsorgerische Arbeit erfuhren die Priesterinnen stets zuerst von Dingen, die die einfachen Leute umtrieben. Aber auch bei privaten Themen hatten sie stets ein offenes Ohr füreinander. Daher hatte sie auch entschieden, sich wegen des kleinen Mädchens zuerst an ihn zu wenden. Vielleicht konnten er und seine Frau die Kleine sogar aufnehmen.
Tharet hatte geduldig gewartet, bis alle Gläubigen und die meisten Priesterinnen den Tempel verlassen hatten und Yerina endlich Zeit für ihn hatte. Da er sie so gut kannte, hatte er an ihrem Gesicht ablesen können, wie lästig ihr all die Gespräche waren, die ihr aufgezwungen wurden. Er kannte solche Momente aus eigener Erfahrung. Jetzt kam Yerina auf ihn zu und umarmte ihn freundschaftlich. Sie fragte: „Hast du einen Moment für mich? Ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.“
Auf dem Weg durch den Tempelbezirk erzählte sie kurz, was sich am Vorabend zugetragen hatte. Sie erreichten ihr kleines Haus, in dem eine der Wäscherinnen noch immer über das kleine Mädchen wachte, das noch in tiefem Schlaf lag. Yerina ließ sie berichten, wie die Nacht verlaufen war. Viel konnte die Angestellte jedoch nicht erzählen. Das Kind hatte mit Appetit gegessen und ruhig geschlafen. Es habe weder besonders schüchtern noch verstört gewirkt, das einzig Seltsame war, dass es sie nicht verstanden und auch kein verständliches Wort herausgebracht hatte. Yerina bedankte sich bei der Frau und entließ sie. Danach setzten sie ihr Gespräch leise fort.
Kurze Zeit später rührte sich das Mädchen in Yerinas Bett. Sofort stand Tharet auf und ging zu ihm hinüber. Er sprach beruhigend auf es ein, während er es aufmerksam betrachtete und dann begann, den kleinen Körper auf Verletzungen hin zu untersuchen.
„Sie scheint mir vollkommen gesund zu sein. Ich würde sie auf ungefähr sechs Jahre schätzen, auch wenn sie eigentlich zu klein für ein Kind dieses Alters ist. Ihre Ohren sind in Ordnung, es ist vielmehr so, als würde sie unsere Sprache nicht sprechen. Warum dem so ist, kann ich nicht sagen. Ich würde ja vermuten, dass sie abgeschieden in der Wildnis aufgewachsen ist, aber sie zeigt keinerlei Scheu vor Menschen.“
Yerina fragte: „Könnte sie irgendeine angeborene Behinderung haben, sodass sie Sprache nicht verstehen kann?“„Das wäre eine Erklärung, aber das kann ich erst beurteilen, wenn ich mehr Zeit mit ihr verbracht habe.“
„Das trifft sich gut, ich wollte dich ohnehin bitten, sie bei euch aufzunehmen, bis ihre Herkunft geklärt ist. Ich habe einfach nicht die Möglichkeit, mich ausreichend um sie zu kümmern. Natürlich kann ich verstehen, wenn du erst mit Galica darüber reden möchtest.“
„Nein, das ist schon in Ordnung. Galica wird sich freuen. Und ich habe die Gelegenheit, herauszufinden, was mit der Kleinen nicht stimmt. Ist dir schon aufgefallen, dass ihr Aussehen sehr untypisch ist. Soweit ich mich erinnere, habe ich noch nie jemanden gesehen, der so zart und feingliedrig ist und dabei braune Haare und braune Augen hat. Die Leute aus der Gegend von Aaran sind zwar zart, aber selten so klein und außerdem eher blond. Im Hochland gibt es viele Braunhaarige, aber keiner ist so zart. Ihr Aussehen gibt uns also keinerlei Hinweise auf ihre Herkunft.“
Das Mädchen, welches sich bisher einfach nur interessiert umgeschaut hatte, wurde langsam unruhig. Yerina bedeutete ihr mit Gesten, dass sie aufstehen könne, und zeigte ihr das Separee, in dem sich eine Waschschüssel und ein Eimer für die Notdurft befanden. Das Kind nickte verstehend und Yerina ließ es allein. Wenn es wirklich schon sechs Sommer gesehen hatte, wie Tharet meinte, so müsste es seine Morgentoilette alleine erledigen können.
Sie schelte an einer Klingel und kurz darauf klopfte eine junge Priesterin an ihre Tür. Yerina trug ihr auf, für Frühstück für drei Personen zu sorgen und sich anschließend um neue Kleidung für das kleine Mädchen zu bemühen. Das Kind trug noch immer die Kleidung, die ihr die alte Frau gegeben hatte.
Später saßen die Drei bei einem üppigen Frühstück. Während das Mädchen stumm aß, spekulierten Tharet und Yerina über seine Herkunft.
„Die Frau, die sie gefunden hat, wird heute Mittag wieder in den Tempel kommen. Vielleicht
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