Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
»Sollen wir die Kinder in den anderen Raum bringen, Sir?«, frage ich O’Shea, der offensichtlich das Sagen hat.
»Nein. Er kann ruhig mitbekommen, was für eine Schlampe seine Mutter ist.« O’Shea beugt sich hinunter und schüttelt Henry an den schmalen Schultern. »Hör auf damit. Hör sofort auf damit, hörst du mich? Deine Mutter ist eine Lügnerin. Sie hat das Andenken deines Vaters beschmutzt.«
Da lässt Henry Helmsleys Beine los. Mit weit aufgerissenen, verängstigten braunen Augen fragt er: »Papa?«
»Habe ich nicht!«, protestiert Lavinia. Die Tränen laufen ihr übers Gesicht. »Das würde ich niemals tun!«
»Jemand aus der Nachbarschaft hat berichtet, Sie und Mr Alvarez Arm in Arm gesehen zu haben«, führt Helmsley weiter aus, wobei er sich über Lavinia beugt. Er muss mindestens ein Meter achtzig groß sein.
Lavinia duckt sich von ihm weg und presst sich mit dem Rücken gegen die abblätternde Tapete mit blauem Blumenmuster. »Ich bin über einen losen Stein gestolpert, und er hat mich aufgefangen. Das war alles, ich schwöre es! Es wird nicht wieder vorkommen. Ich werde von jetzt an zu Hause sein, bevor es dunkel wird.« Aber das bedeutet, mehrere Stunden Arbeit aufzugeben – und den Lohn, den ihre kleine Familie so dringend braucht.
»Eine Frau gehört an den heimischen Herd, Mrs Anderson«, sagt O’Shea. Er lässt Henry los und wendet sich höhnisch grinsend an Helmsley. »Siehst du, das kommt dabei raus, wenn man Frauen erlaubt, außer Haus zu arbeiten. Da bekommen sie ganz falsche Vorstellungen davon, was Sitte und Anstand ist. Sie wenden sich vom Herrn ab …«
»Und denken, sie könnten ebenso gut für sich sorgen wie ein Mann«, stimmt Helmsley ihm zu.
»Denken Sie etwa, ich gehe gerne arbeiten?«, ruft Lavinia schrill. Ich würde ihr am liebsten den Mund zuhalten. Einen Streit anzufangen, wird alles nur noch schlimmer machen. »Ich habe diese Arbeit doch erst begonnen, nachdem mein Mann gestorben ist. Wir können doch nicht nur von den Almosen der Schwesternschaft leben. Wir würden verhungern!«
»Still!«, brüllt Bruder O’Shea und baut sich drohend vor ihr auf. »Ihre Aufsässigkeit hilft Ihnen nicht weiter, Madam. Sie sollten dankbar sein für das, was man Ihnen gibt.«
Mrs Anderson holt tief Luft und bringt ein schwaches Lächeln zustande. »Entschuldigung«, sagt sie leise und sieht Mei und mich flehentlich an. »Ich bin ja auch sehr dankbar. Ich tue, was Sie wollen. Ich schwöre auf die Heilige Schrift, ich habe nichts Falsches getan!«
O’Shea schüttelt missbilligend den Kopf, als hätte sie gerade eine weitere schwere Sünde begangen. »Sie würden einen Meineid leisten.«
Ein Grinsen macht sich auf Helmsleys hässlichem Gesicht breit, als die Falle um Lavinia zuschnappt. »Uns wurde berichtet, dass Alvarez ihre Hand küsste, als Sie sich verabschiedeten. Wollen Sie das etwa bestreiten?«
»Ich … Nein, aber …« Lavinia lässt sich gegen die Wand fallen. »Bitte, lassen Sie es mich doch erklären!«
»Sie haben uns für heute genug Lügen aufgetischt, Mrs Anderson. Ich denke, es ist klar, was hier vor sich gegangen ist. Wir verhaften Sie wegen des Verbrechens der Unzucht.«
Der Säugling fängt an zu schreien. Auch Henry weint und klammert sich an Lavinias Röcke.
»Wir könnten dem ein Ende bereiten.« Alice bewegt kaum die Lippen. Sie spricht so leise, dass ich sie bei dem ganzen Aufruhr fast gar nicht verstehe, aber die Bedeutung der Worte erschließt sich mir sofort.
Doch was sie vorschlägt, ist riskant. Außerhalb des Klosters Magie anzuwenden, würde uns alle in Gefahr bringen. Und Gedankenmagie ist die seltenste und tückischste Magie, die es gibt. Eine Erinnerung auszulöschen, bedeutet, in Kauf zu nehmen, dass andere, damit verbundene Erinnerungen ebenfalls verloren gehen; und mehrfach Gedankenmagie an der gleichen Person auszuüben, kann schlimme Narben zurücklassen. Vor langer Zeit, als Neuengland noch von den Hexen regiert wurde, wurde Gedankenmagie benutzt, um die Gegner der Hexen unter Kontrolle zu halten und gegebenenfalls auch zu zerstören. Die Bruderschaft erzählt diese alten Geschichten immer wieder, um die Leute in Angst und Schrecken vor uns zu versetzen, obwohl Alice und ich die einzigen Schülerinnen des Ordens sind, die überhaupt dazu fähig sind.
»Nein«, flüstert Mei verzweifelt. »Haltet euch da raus. Das geht uns nichts an.«
»Es sind nur vier. Zusammen schaffen wir das.« Alice greift nach meiner Hand. »Zähl bis
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