Töchter des Schweigens
geschehen ist, denn obwohl sie nicht verstehen konnte, was Marga sagte, war die Situation aus der Gestik leicht zu erraten. Der Tollpatsch, mit dem sie tanzt, blond und rot wie eine gekochte Krabbe, zieht sie etwas fester an sich, und sie lässt ihn gewähren, während sie darüber nachdenkt, wie sie ihr Wissen nutzen könnte. Sie würde Manolo gern in ein kleines Gespräch verwickeln, vielleicht indem sie vorgibt, sich Sorgen um Marga zu machen, und dem armen Trottel stecken, dass seine Freundin auf Frauen steht. Sie ist sicher, dass ihm diese Idee noch nie gekommen ist, trotz der Pornohefte, die er gelegentlich kauft und heimlich in der Schultasche herumträgt, um sie seinen Freunden zu zeigen und mit seinen Kontakten zu prahlen.
Ein paar Meter weiter sieht sie Tere mit einem Jungen tanzen, dem Aussehen nach einem der wenigen Spanier in der Diskothek, abgesehen von ihren Schulkameraden. Sie reden die ganze Zeit, als wäre das Tanzen nur ein Vorwand, sich nah genug zu sein, um sich verständigen zu können. Ab und zu wirft sie einen Blick zu dem Seitentisch, wo sich der Direktor und seine Frau mittlerweile anbrüllen, und zieht eine Grimasse, als könne sie es nicht ertragen, dass sich zwei Lehrer benehmen wie ein gewöhnliches Ehepaar. Man kann sie nicht hören, aber sie sind ganz zweifellos drauf und dran, handgreiflich zu werden, was bedeutet, dass Don Telmo jeden Moment aufstehen und verkünden wird, es sei Zeit, ins Hotel zurückzufahren, und der Spaß habe jetzt ein Ende. Ursprünglich hat sie vorgehabt, Sole im Lauf des Abends beiseitezunehmen und ihr ihren Schatz zu zeigen, aber sie hat nicht damit gerechnet, dass sie zum Tanzen aufgefordert würde, und als der Schwede auf sie zukam, ist sie lieber mit ihm auf die Tanzfläche gegangen und hat alles andere auf später verschoben. Doch jetzt wird wohl nichts mehr daraus. Don Telmo hat den Tisch, an dem seine Frau das Gesicht in den Händen vergräbt, bereits verlassen und fängt an, seine Schützlinge einzusammeln.
2007
Ana saß in einem Café im Zentrum und wartete auf Teresa. Sie hatte sie früh am Morgen angerufen, sie aber trotzdem bereits auf der Straße erwischt, denn noch hatte Teresa keine Nachfolgerin für Lena gefunden und kam mit der Arbeit kaum nach.
»Ich kann es dir nicht am Telefon erzählen«, hatte Ana gesagt. »Wir müssen uns so schnell wie möglich sehen.«
Dennoch hatte Teresa, die nervös und besorgt wirkte, vor elf Uhr keine freie Minute gefunden.
Als sie endlich kam, hatte Ana schon zwei Dutzend Zahnstocher zerbröselt und rund um ihre Kaffeetasse aufgeschichtet.
»David hat die Dias und den Mallorca-Film mitgenommen«, sagte Ana, noch bevor Teresa ihr am hintersten Tisch des Lokals gegenübersaß. »Anscheinend haben sie ein paar E-Mails von Lena und Sole gefunden und meinen jetzt, dass etwas, das sich in jenem Sommer ereignet haben muss, der Schlüssel zu allem sein könnte.«
Teresa holte tief Luft und schloss einen Moment die Augen, um sich zu konzentrieren.
»Was hast du ihm erzählt?«
»Nichts«, sagte Ana und presste die Lippen zusammen, bis sie weiß waren.
»Komm schon! Als David dich gefragt hat, ob es auf dieser Reise einen besonderen Vorfall gegeben hat, hast du da wirklich Nein gesagt?«
»Ich habe ihm das gesagt«, sagte Ana und schluckte hart, »was wir für den Extremfall verabredet hatten. Was wir auch Ingrid gesagt haben, weißt du noch? Dass wir auf der Rückfahrt in einen Sturm geraten sind, dass wir alle in die Gänge gekotzt haben und irgendwann im Lauf der Nacht eine Schulkameradin ins Wasser gefallen sein muss, ohne dass es jemand bemerkt hat, denn als wir im Hafen ankamen, war sie nicht mehr da. Dass ihre Leiche nie gefunden wurde und wir alle deshalb jahrelang mit vagen Schuldgefühlen zu kämpfen hatten.«
»Gut.«
»Ja?«
»Natürlich. Was hättest du denn sonst machen sollen? Genau das habe ich eben auch Machado erzählt.« Ana starrt sie mit großen Augen an. »Die Polizei hat mich noch einmal angerufen. Gestern Abend bat Machado mich, heute noch einmal vorbeizukommen, sobald ich es mir einrichten könnte, also stand ich Punkt acht bei ihm auf der Matte, sonst schaffe ich mein Arbeitspensum heute nicht.«
»Was wollte er denn wissen?«
»Was auf der Reise passiert ist. Offenbar schreibt eine von beiden – oder beide, das weiß ich nicht – in ihren E-Mails, dieser Sommer habe unser aller Leben verändert, und das wirft jetzt Fragen auf. Da muss aber noch irgendetwas anderes sein, das sie
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