Töchter des Schweigens
mir nicht gesagt haben. Hast du eine Idee?«
»David hat von einer Mail gesprochen, die Lena nach unserem Mädelsessen am Abend von Moros y Cristianos an Sole geschickt hat, in der sie schreibt, sie sei fix und fertig gewesen, nachdem sie die Dias und den Film gesehen hatte, und habe sich mit Rita verabredet, um ihr etwas zu erzählen, was sie ihr Leben lang verschwiegen habe.«
Teresa schlug die Hände vors Gesicht.
»Du lieber Gott! Wie konnte sie nur so bescheuert sein und so etwas schreiben?«
»Ich glaube, dass sie immer wusste, wer es getan hat, Tere.« Ana sprach so leise, dass ihre Stimme kaum ein Wispern war. »Es kann sogar sein, dass sie es selbst war …«
»Lena?« Teresa schüttelte den Kopf.
»Warum nicht? Warum alle außer ihr?«, beharrte Ana.
»Weil sie kein Motiv hatte, Ana. Sie hatte nichts ausgefressen, ihre Eltern kamen gut miteinander aus, sie hatte kein Geheimnis.«
»Doch, das gleiche wie alle anderen auch.« Ana sah sie herausfordernd an, einen fiebrigen Glanz in den Augen. »Anscheinend bin ich die Einzige, die sich an den Abend vor der Überfahrt erinnert. Ihr anderen denkt an nichts anderes als an das mit Mati. Und aus ebendiesem Grund, eben weil Mati nichts hatte finden können, um Lena unter Druck zu setzen, und nie eines ihrer sogenannten ›vertraulichen Gespräche‹ mit ihr geführt hatte, könnte Lena in der Nacht auf dem Schiff die Nerven verloren haben, weil sie feststellen musste, dass sie jetzt wie alle anderen war und Mati sie für immer in der Hand haben würde. Und deshalb hat sie sie über Bord gestoßen. Hältst du das nicht für möglich?«
Sie unterbrach sich, weil der Kellner den Kaffee brachte, den Teresa am Tresen bestellt hatte, bevor sie sich an den Tisch setzte. Teresa nickte immer noch vor sich hin, doch schien sie Ana jetzt mehr Aufmerksamkeit zu schenken, während sie den Süßstoff in die Tasse rührte.
»Uns allen hat es das Leben verändert«, fuhr Ana fort. »Nun ja, fast allen, denn du hast den Weg weiterverfolgt, den du dir vorgenommen hattest. Ich glaube, du bist die Einzige.«
»Und Carmen, obwohl durch die Schwangerschaft dann auch bei ihr einiges falsch lief.«
»Ja, du hast recht, aber wir anderen haben uns danach innerlich zerfleischt. Und am schlimmsten erging es Lena, das wirst du nicht abstreiten. Sie brach mit allem. Mit allem, Tere. London, Ibiza, die griechischen Inseln, Indien. Sex and drugs and rock and roll , das volle Programm. Und als sie schließlich zurückkam, mit Jeremy und ohne Nick, ohne Ausbildung, ohne Job, ohne Zukunft, lebte sie nur noch auf Sparflamme, wurde immer sanfter, immer fügsamer, als wollte sie für die Sünden ihrer Jugend büßen. Sag nicht, dass das nicht denkbar wäre.«
Eine lange Pause entstand. Gäste betraten die Bar und verließen sie wieder, der Spielautomat gab gelegentlich Töne von sich, um Kunden anzulocken, der Barmann warf ab und zu einen Blick zu ihnen hinüber, falls sie noch etwas bestellen wollten.
»Was ich für denkbar halte, Ana, tut nicht viel zur Sache. Ich bin überzeugt, dein Mann und Machado kommen früher oder später zu der genialen Erkenntnis, dass das mit Mati kein Unfall war …«, begann Teresa mit Bedacht, als wäge sie jedes Wort ab, und Ana drückte sich die Hände auf den Mund. »Langsam, nicht erschrecken. Angenommen, wir würden damit herausrücken – es uns am besten Stück für Stück aus der Nase ziehen lassen –, dass Mati uns mit unseren kleinen Teenager-Geheimnissen erpresste, die heute zwar lachhaft erscheinen, aber für uns damals horrend wichtig waren …, dann könnten wir die Polizei auf den Gedanken bringen, dass Lena sie im Affekt umgebracht haben muss, wir aber nicht wissen, worum es dabei ging, wahrscheinlich um etwas, wofür ihre Eltern sie bestraft oder ihr verboten hätten, in London zu studieren, oder so was Ähnliches. Und als sie jetzt den Film aus jenem Sommer gesehen hat, ist sie unter der Schuld zusammengebrochen und hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Ich denke, das ist leicht zu akzeptieren. Bleibt die Frage, wer versucht hat, Rita hineinzuziehen, und warum.«
»Ich gehe davon aus, dass du ihnen nichts von der famosen ›Manolo-Variante‹ gesagt hast.«
»Nein. Ich hielt es unter den gegebenen Umständen nicht für angebracht. Vielleicht später … wenn sie selbst zu dem Schluss gekommen sind, dass Lena sich für etwas bestrafen wollte, was sie seinerzeit getan hat … möglicherweise können wir an dieser Stelle eine Andeutung
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