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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elia Barceló
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mir natürlich nie gesagt. Wie dem auch sei, Süße, ich muss los. Soll ich mit den anderen telefonieren, oder übernimmst du einen Teil? Ich habe so furchtbar wenig Zeit …«
    »Ruf du Candela an, die ist die Schwierigste, und ich übernehme die anderen drei. Ricky ist heute auf einem Schulausflug, und ich habe keinen Dienst.«
    Sie umarmten sich, und Ana blieb in dem Café sitzen, um die Anrufe zu erledigen.

    Gerardo Machado saß in seinem Büro und starrte auf das Blatt Papier vor sich, auf dem er alles aufgelistet hatte, was er in Lenas Fall einer näheren Überprüfung für wert befand, ergänzt durch die Informationen aus dem Polizeiarchiv.
    Aus den Dias und dem Film, die David am Morgen mitgebracht hatte, ließen sich keine wesentlichen Erkenntnisse gewinnen; es waren nur die typischen Aufnahmen von Jugendlichen: Rita Monteros achtzehnter Geburtstag und der Super-8-Streifen von der Klassenfahrt, auf dem sie alle unglaublich jung und glücklich aussahen. Weiter nichts.
    Es hatte ihn amüsiert, einige der fünfzigjährigen Männer, denen er heute in Banken, Büros und Restaurants begegnete, als Halbwüchsige mit langen Haaren und ausgestellten Hosen zu sehen, doch außer ihnen und Lenas Freundinnen hatte er niemanden erkannt, denn als er aufs Gymnasium ging, auch wenn es dieselbe Schule war, waren auch diese Lehrer entweder nicht mehr dort gewesen oder hatten seine Klasse nicht unterrichtet.
    Was den Unfall dieses Mädchens namens Matilde Ortega Navarro betraf, so waren in den Polizeiberichten aus Alicante lediglich ihr Verschwinden und die sofort eingeleitete erfolglose Suche dokumentiert. Tatsache war, dass das Mädchen im Hafen von Palma de Mallorca zusammen mit ihren Schulkameraden die Fähre bestiegen hatte und bei der Ankunft in Alicante nicht mehr auf dem Schiff gewesen war. Ebenso war es eine unstrittige Tatsache, dass es in der Nacht ihrer Überfahrt ein Gewitter mit schwerem Seegang gegeben hatte. Wenn die Kleine so dumm gewesen war, an Deck zu gehen, als ihr übel wurde, statt sich in einem der Waschräume zu erbrechen, wäre es nicht verwunderlich, wenn sie von einer Welle über Bord gerissen worden wäre, ohne dass es jemand bemerkt hatte.
    Teresa hatte ihm erzählt, alle seien in dieser Nacht seekrank gewesen und hätten sich übergeben, und dazu kam noch, dass sie völlig erschöpft waren, nachdem sie eine Woche lang bis in die frühen Morgenstunden gefeiert hatten und trotzdem für ihr Tagesprogramm früh aufstehen mussten. Es schien glaubhaft, dass Matildes Abwesenheit bis zur Ankunft niemandem aufgefallen war. Außerdem war sie offenbar nicht sehr beliebt gewesen und hatte keine enge Freundin, die sie vermisst hätte, als sie nicht in ihre Koje zurückkehrte.
    Und dennoch …
    Und dennoch musste sich in der Nacht etwas ereignet haben, sodass Lena dreiunddreißig Jahre später an ihre Freundin Sole schrieb, sie müsse loswerden, was sie so lange mit sich herumgetragen habe. Ich glaube, ich werde den Mut finden, das zu tun, was getan werden muss , hatte sie geschrieben. Was zu tun? Sich umzubringen für etwas, was sie damals getan hatte? Bestand die Möglichkeit, dass sie sich doch selbst umgebracht hatte, auch wenn gewisse Dinge nicht zu einem Suizidszenarium passten?
    Er führte die Hypothese aus: Lena, die Rita Montero zum Abendessen eingeladen hat, um ihr etwas zu erzählen, das sie seit dreiunddreißig Jahren geheim hält, was immer es sein mag – vielleicht war sie ja diejenige, die Matilde in einem Wutanfall über Bord gestoßen und dann nichts zu ihrer Rettung unternommen hatte –, beschließt mit einem Mal, dass sie des Lebens überdrüssig ist und begeht Selbstmord, bevor ihr Gast eintrifft. Um dieses Geheimnis, das sie verzehrt, nicht in Worte fassen zu müssen? Seltsam, aber nicht ausgeschlossen. Also kocht sie sich einen Tee und löst darin eine Dosis Schlafmittel auf, die ein Pferd umgehauen hätte. Auch seltsam. Aber dann, nachdem sie die Tasse ausgetrunken hat, geht sie in die Küche, spült das Geschirr, das sie benutzt hat, trocknet es ab und räumt es weg, ehe sie heißes Wasser in die Badewanne laufen lässt und sich die Pulsadern öffnet. Höchst seltsam. Es sei denn, sie hat sich nicht nur umbringen, sondern auch den Verdacht auf ihre Freundin lenken wollen. Warum? Denn wenn sie laut ihrer E-Mail bereit war, Rita zu erzählen, was sie über die fragliche Nacht wusste, dann musste sie doch sicher sein, dass die Montero nichts mit der Sache zu tun hatte.
    Und nachdem

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