Töchter des Schweigens
machen, was das Eingreifen Manolos angeht. Letzten Endes hängen wir ihm damit keinen Mord an. Wir beschuldigen ihn lediglich, eine Dummheit begangen zu haben, eine Kinderei, wie sie für ihn ja durchaus typisch ist.«
»Das ist zumindest Irreführung der Justiz.«
»Mag sein. Aber es ist kein Mord.«
»Dich überzeugt das mit Lena nicht so ganz, stimmt’s?«
Teresa zuckte mit den Schultern.
»Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Ich muss noch ein bisschen darüber nachdenken.«
»Und was tun wir jetzt?«
»Sie werden uns alle vorladen und über die Klassenfahrt befragen. Entscheidend ist, dass wir alle das Gleiche sagen und keine etwas auf eigene Faust hinzufügen darf: Es gab ein Gewitter, und wir waren erschöpft von der letzten Diskonacht auf Mallorca, hatten kaum geschlafen, kotzten oder lagen in unseren Kojen, das kann sich jede aussuchen. Mati haben wir die ganze Nacht nicht gesehen, und als wir in Alicante ankamen, stellten wir fest, dass sie nicht mehr da war. Die Polizei verhörte uns alle im Hafen, und niemand wusste irgendetwas, was im Grunde die reine Wahrheit ist, Ana. Oder weißt du etwas?«
Ana schüttelte heftig den Kopf. Teresa fuhr fort.
»Wichtig ist, dass wir immer von der ganzen Gruppe reden, einschließlich der Jungen, um nicht den Eindruck zu erwecken, nur wir sieben hätten damit zu tun gehabt.«
»Und wenn sie uns fragen, wer mit wem die Kabine geteilt hat, wer mit Mati gesprochen hat? Ich weiß nicht, solche Sachen halt …«
»Das wissen wir nicht mehr genau. Wie sollen wir uns nach dreiunddreißig Jahren noch erinnern, wer wo schlief?«
»Ich kann mich erinnern.«
»Nein, jetzt nicht mehr«, sagte Teresa scharf und sah ihr in die Augen. »Das hast du vergessen, ist das klar? Es gibt nichts Verdächtigeres als jemanden, der sich nach so langer Zeit an Nichtigkeiten erinnert. Das weiß ich von einer Patientin, die Richterin ist. Isabel Alcañiz.« Ana nickte. »Sie hat mir mal gesagt, wenn sich ein Zeuge in allen Einzelheiten an etwas erinnert, das in dem Moment, als es geschah, keine Bedeutung für ihn hatte, denkt ein Richter immer, er lügt. Das geht der Polizei sicher genauso.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Wenn eine Frau, nur um ein Beispiel zu nennen, sich an unwesentliche Details des Tages erinnert, an dem ihr Sohn starb, dann ist das normal. Oder wenn du eine schwere Operation hattest oder ein superwichtiges Examen oder so, etwas, das sich dir ins Gedächtnis eingegraben hat, weil es für dich – und hör gut zu, ich sage ›für dich‹ – von entscheidender Bedeutung war. Aber es ist nicht normal, wenn du nach etwas gefragt wirst, das meinetwegen am sechsten Februar geschah, einem Tag wie jedem anderen, ohne jede Besonderheit für dich, und du dich haarklein erinnerst. Wenn du dich so genau erinnerst, dann nur, weil sich etwas äußerst Wichtiges ereignet hat. Und wir wollen ja nicht, dass sie denken, jene Nacht wäre aus irgendeinem Grund besonders wichtig für uns gewesen. Wenn du Einzelheiten schildern willst, beschreib den nächsten Tag, erzähl, wie wir von Matis Tod erfuhren. Dass sich dir das eingeprägt hat, ist begreiflich.«
»Das stimmt übrigens. Dieser Tag hat sich mir eingeprägt. Da habe ich erfahren, dass meine Mutter ausgezogen war und ich mich entscheiden musste, ob ich bei meinem Vater in unserem Haus bleiben oder mit ihr in eine Mietwohnung ziehen wollte, wo José Luis ein- und ausging, wann es ihm beliebte. Ich denke, das war wichtig genug, um mich bis heute daran zu erinnern.«
»Das wusste ich gar nicht.«
»Macht nichts. Ist schon lange her.«
»Immerhin ist es ja gut gegangen, nicht wahr?«
»Mit meiner Mutter und José Luis? Ja. Sie sind seitdem zusammen, und sie hat immer gesagt, er sei der Mann ihres Lebens.«
»Du scheinst darüber nicht gerade erfreut zu sein.«
Anas Blick wanderte auf die Straße hinaus, wo eine lange Autoschlange jemanden anhupte, der einzuparken versuchte.
»Es ist kein sehr angenehmer Gedanke, dass meine Schwester und ich im Grunde Irrtümer einer Frau waren, die den Mann ihres Lebens noch nicht gefunden hatte.«
»Kopf hoch, Mädel! Wenigstens sind deiner Mutter nur zwei Irrtümer unterlaufen. Meiner fünf. Und sie blieb bei meinem Vater bis zu ihrem Tod. Ich glaube, sie hat nie erfahren, wie es sich anfühlt, verliebt zu sein. Vom Bett ganz zu schweigen … Meine Mutter gehörte zu denen, die diese Welt wieder verlassen, ohne in ihrem ganzen Leben einen einzigen Orgasmus gehabt zu haben. Das hat sie
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