Töchter des Schweigens
sechzehn habe ich es aufgegeben und es nie bereut. Komm, mal sehen, ob wir die Bar finden. Sie muss hier ganz in der Nähe sein. Komisch, in Romanen habe ich das häufig gelesen, aber jetzt merke ich, dass es wahr ist: Diese Straße war viel länger, viel schmaler. Nachts sah man kaum das Ende, und oftmals, wenn wir mit schwirrendem Kopf aus dem Musikunterricht kamen und den Mantelkragen hochklappten, kam sie uns vor wie die Straßen in dem Gedicht von Espronceda, Der Student von Salamanca , erinnerst du dich? Einfach großartig, dieser Rhythmus, dieser Klang, diese Bilder, der reinste Videoclip. Ich würde daraus gern einmal einen Film machen. Menschenskind, Ingrid, wieso sagst du denn gar nichts?«
Ingrid sah sie an, und in ihren tiefblauen, von blonden Wimpern umgebenen Augen blitzte es spöttisch.
»Ich komme doch überhaupt nicht zu Wort.«
Rita lachte. Dieses helle, klangvolle Lachen, das einen manchmal fast erschreckte, weil man es ihrem schmalen Körper gar nicht zugetraut hätte.
»Du hast recht. Entschuldige. Es stürmen nur so viele Erinnerungen auf mich ein, so viele Assoziationen …«
»Weil du nervös bist.«
Rita nickte wortlos. Den Blick auf ihre Schuhe gerichtet, lächelte sie ihr berühmtes »Karnickellächeln«, wie Ingrid es nannte, und zündete sich eine Zigarette an.
»Touchée.«
»Du hast sie seit dreißig Jahren nicht gesehen, das ist doch ganz normal.«
Sie bummelten weiter durch Straßen, die früher wohl einmal zur Altstadt gehört hatten und sich heute anscheinend nicht recht entscheiden konnten: Moderne mehrstöckige Gebäude erhoben sich neben stark verwitterten traditionellen Häuschen.
»Damals waren wir richtig gute Freundinnen. Und dann war es praktisch mit einem Schlag vorbei. Wir zerstreuten uns. Ich ging für ein Semester nach London und kam nie mehr hierher zurück, weil wir den Sommer immer in Galicien verbrachten, wo meine Eltern ein Haus gemietet hatten. Anfangs hielt mich meine Mutter über die anderen auf dem Laufenden, eine Zeit lang haben wir uns auch noch geschrieben, zu Weihnachten, zum Geburtstag …, dann hat sich alles im Sand verlaufen, bis heute. Na also, ich glaube, wir haben es geschafft, das muss die Bar sein.«
»Was heißt, das muss sie sein?«
»Genau weiß ich es nicht, außerdem war ich nie allein hier.«
»Du weißt nicht, wie sie heißt?«
»Nein. Es war immer nur ›die Bar‹, seit wir sie mit ungefähr vierzehn entdeckt haben und hingegangen sind, um Tintenfischbrötchen zu essen und uns bis zehn Uhr abends erwachsen und mondän zu fühlen, denn um diese Zeit mussten wir zu Hause sein.«
»Also …«, begann Ingrid und versuchte, ein handgemaltes Schild über der Tür zu entziffern. »Hier steht …«
»Ich will es gar nicht wissen. So weit kommt’s noch, dass ich nach dreißig Jahren erfahren muss, wie diese Spelunke heißt. Sie hat nie einen Namen gehabt. Belass es einfach dabei.«
Durch die Glastür wirkte das Lokal schmutzig und ein wenig abweisend, altertümlich, bedrohlich und stickig. Ein langer Tresen aus dunklem Holz, eine Wand mit Flaschenregalen und Kalenderfotos von Mädchen im Bikini, ein dicker, kahlköpfiger Mann, der mit verschränkten Armen und stierem Blick ein Fußballspiel im Fernsehen verfolgte.
»Was für ein Treffpunkt«, bemerkte Ingrid und hielt ihr die Tür auf.
»Die Tapas sind gut. Zumindest waren sie es.«
Sie gingen in den hinteren Teil des Lokals zu einem kleinen Raum auf der rechten Seite, den man von der Straße aus nicht sehen konnte. An dem einzigen großen Tisch blickten ihnen bei ihrem Eintreten drei Frauen entgegen. Eine von ihnen stand sofort auf und kam mit ausgebreiteten Armen lächelnd auf Rita zu. Die Frau war fast so groß wie sie, hatte dunkles, zu einem halblangen Bob geschnittenes Haar und trug einen naturfarbenen Leinenanzug.
»Tere? Teresa?« Es handelte sich ganz offensichtlich um Teresa, die allerdings zugenommen hatte und wie eine Dame mittleren Alters wirkte.
»Ja, klar, Marga … Rita, meine ich, entschuldige.«
Sie umarmten sich, und Ingrid sah ihnen lächelnd zu. Es sah nicht danach aus, als führten diese Frauen Böses gegen Rita im Schilde. Die beiden anderen hatten sich ebenfalls erhoben und warteten darauf, sie ihrerseits in die Arme zu schließen.
»Mein Gott, Magda … Lena, wollte ich sagen, bist du hübsch, du siehst ja immer noch aus wie ein Teenager! Und du, Carmen, umwerfend wie eh und je.«
»Ein paar Pfunde mehr, aber das Fett sitzt an den richtigen
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