Töchter des Schweigens
bloß weil wir vor über dreißig Jahren zusammen in die Schule gegangen sind?«
»Ich habe über dreißig Jahre meines Lebens nicht aufgehört, an dich zu denken, du dämliche Kuh. Mich gefragt, wie alles hätte sein können, warum du mich nicht anrufst, warum du mir nicht schreibst … Und gehofft, du würdest dich überwinden und endlich einsehen …« Rita sah, wie Candelas Augen sich mit Tränen füllten und sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, bis sie den Blick schließlich auf die Tischplatte senkte. »Sogar Jura habe ich studiert«, schloss sie mit rauer Stimme, als handelte es sich dabei um das größte Opfer, das sie jemals bringen konnte.
»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?« Alle Wut, die Rita einen Moment zuvor noch empfunden hatte, war wie weggeblasen und einem Gefühl größter Verwirrung gewichen.
»Lassen wir das, Rita. Ich sehe schon, du erinnerst dich nicht oder willst dich nicht erinnern, was noch schlimmer ist. Tun wir, als wäre nichts geschehen, als wäre nie etwas geschehen, als wären wir einfach zwei Schulfreundinnen, die sich nach hundert Jahren wiedertreffen und sich erzählen, wie gut es ihnen geht und was sie noch alles vorhaben. Erzähl mir von deinen Plänen, los! Entschuldige, die Sonne scheint in die Windschutzscheibe dieses Autos und blendet mich«, sagte sie, wobei sie ihre Sonnenbrille wieder aufsetzte.
Rita verspürte nicht die geringste Lust, Candela von ihren Plänen zu erzählen, aber die Wende, die das Gespräch damit nahm, ermöglichte ihr, sich aus der Gefahrenzone zu entfernen, indem sie von alltäglichen, oberflächlichen, unbedeutenden Dingen reden konnte.
»Nun ja … als Erstes will ich Tante Doras Wohnung ausräumen, sie zum Verkauf anbieten, ein wenig den Sommer genießen, ein Drehbuch fertig schreiben und dann, 2008, mit den Dreharbeiten für einen Film anfangen, den ich schon vorbereitet habe. Das Übliche eben. Und du?«
»Ich habe einen Haufen Fälle in Arbeit. Unsere Kapazitäten sind ausgeschöpft bis zum Frühling.« In den wenigen Sekunden, die Rita gebraucht hatte, ihre nächsten Projekte zu umreißen, schien Candela sich wieder gefasst zu haben, denn sie schlug jetzt einen leichten Plauderton an. »Danach, vielleicht im Mai, werde ich Urlaub machen. Ich nehme mir schon seit einer Ewigkeit keine Zeit mehr für mich. Ich habe an die Karibik gedacht, eventuell Kuba. Ich war noch nie in Kuba. Aber wenn Carmen, diese Gans, jetzt eine Kreuzfahrt in dieselbe Gegend macht, fahre ich vermutlich woanders hin. Die Vorstellung, dass sie schon da gewesen sein und alles fotografiert haben könnte, würde mir den Spaß verderben. Übrigens, warum hast du eigentlich sie zuerst angerufen?«
Rita musste sich schwer beherrschen, um nicht die Geduld zu verlieren, und holte tief Luft, bevor sie erwiderte: »Sie hat mich angerufen, gleich am Tag nach unserem Treffen in der Kneipe.«
»Sie ist eine Klatschtante.«
»Ja. Den Eindruck hatte ich auch. Aber es geht ihr nicht gut, Candela. Sie trinkt ungeheuer viel.«
»Ihr Vater war Alkoholiker. Das vererbt sich. Es ist etwas Genetisches.«
»Das ist es nicht allein. Ich glaube, sie ist unglücklich.«
»Wer ist schon glücklich?« Candela sah sie befremdet an.
»Ich, zum Beispiel. Ich bin glücklich. Und Tere, glaube ich. Und Ana und Lena.«
»Ja, mag sein, dass du glücklich bist. Und Teresa auch, die ist ein Felsblock. Sie ist eine von denen, die mit Gewalt glücklich sind, mit zusammengebissenen Zähnen, die auf Leben und Tod um ihr Krümelchen Glück kämpfen. Fast so wie ich. Lena ist nie älter als zwanzig geworden, und ich glaube, sie hat längst das Handtuch geworfen und meint, das Leben hätte ihr sowieso nichts Lohnendes mehr zu bieten. Wie ein Zombie, der macht und tut, ohne zu wissen, warum, weil man halt machen und tun muss, weil es sonst nichts gibt. Das bringt mich zur Weißglut. Lenas Schicksalsergebenheit hat mich schon immer zur Weißglut gebracht. Und Ana …? Tja, sie behauptet, sie mag ihre Arbeit, sie liebt ihren Mann, findet ihren Sohn entzückend und ist begeistert von ihrem Haus, aber das ist nicht Ana. Sie ist nie mehr die Alte gewesen. Erinnerst du dich noch, wie Ana war? Sie war diejenige, die Rechtsanwältin werden und ihr Leben dem Kampf für die Rechte der Frauen, der Armen, des ganzen Universums widmen wollte. Mein Gott, sie war Kommunistin! Sie war Kommunistin mit Parteibuch, als das noch verboten war und man dafür in den Knast kam.«
»Woher weißt du das?«
»Ich
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