Töchter des Schweigens
zwischen den Palmen hervorlugt und gleich hinter dem Horizont verschwunden sein wird. Mit Sole hat sie das große Los gezogen, wenngleich sie sich noch nicht ganz im Klaren ist, wann und wie sie es angehen wird, um ihr nicht nur zu sagen, was sie über sie weiß, sondern ihr auch gleich den schlagenden Beweis dafür zu liefern.
Sorgsam drückt sie die Zigarettenkippe aus, lächelt wieder und legt sich ins Bett, sicher, dass alle anderen schlafen und sie im Augenblick nichts verpassen wird. Wenn die Mädels den ganzen Tag zusammenstecken und sich unbeaufsichtigt fühlen, wird es in den nächsten Tagen gewiss eine Menge zu notieren geben.
2007
Sole, im Flugzeug nach Madrid, döste ein, schrak wieder hoch, wurde sich bewusst, wo sie war und dass sie sich auf dem Weg nach Spanien befand, weinte eine Weile und versank wieder in einem leichten Dämmerschlaf, der sie in einem Schwebezustand hielt, einer Art dunstigem Limbus, als wäre die Zeit aufgehoben und sie ein Geist, ein fast unsichtbares Wesen, alterslos, körperlos, so gut wie nicht vorhanden.
Sofort nachdem Teres E-Mail eingetroffen war, hatte sie Pedro eine Nachricht hinterlassen, war zum Flughafen gefahren und ins erstbeste Flugzeug gestiegen, das nach Spanien ging. Sie hatte nur eine kleine Reisetasche bei sich, Lenas Briefe und eine Modezeitschrift, die sie aus purer Gewohnheit gekauft hatte, während sie auf den Abflug wartete.
Sie hatte ihre Mutter angerufen, um ihr Bescheid zu geben, dass sie es gerade noch rechtzeitig zur Beerdigung ihrer Freundin schaffen würde, und nach kurzem Hin und Her hatte ihre Mutter darauf bestanden, sie zu begleiten.
Pedros Sekretärin hatte ihr einen Mietwagen reserviert, den sie am Flughafen von Alicante in Empfang nehmen würde, dann würde sie schnurstracks ihre Mutter abholen und zur Beisetzung fahren. Darüber hinaus hatte sie keinen Plan. Nach dreiunddreißig Jahren würde sie die Mädels wiedersehen, oder was noch von ihnen übrig war, und sie mochte gar nicht daran denken, was geschehen könnte. Aber sie musste Abschied nehmen von Lena, das war das Mindeste, was sie tun konnte.
Sie war müde. Sie hatte erst vier Stunden Flug hinter sich und war schon müde. Vom Weinen um Lena, vom Selbstmitleid und von der Angst vor der Rückkehr in den Ort ihrer Kindheit.
Durch den Nebel ihrer Müdigkeit und der Tablette, die sie eingenommen hatte, um während des Fluges schlafen zu können, drängten sich beharrlich die Erinnerungen, und obwohl sie sich nach Kräften wehrte, nahmen sie selbst bei offenen Augen Gestalt an: Lena, damals noch Magda, wie sie sich mit aufgeregt blitzenden Augen in Mallorca die lange Mähne bürstete; der Großvater, wie er mit seiner gewohnten Leichenbittermiene zu ihrer Mutter sagte, er wisse zwar, dass die Entscheidung, Sole diese Klassenfahrt mitmachen zu lassen, nicht bei ihm liege, aber er sei entschieden dagegen; der nachsichtige, verständnisinnige Blick ihres Vaters, der ausnahmsweise einmal gegen den Rest der Familie Partei für sie ergriff; Onkel Ismael, der sie mit seinem Wieselgrinsen die Farben auf Deutsch lehrte, das »Schlüpfer-und-Zepter-Spiel«, die unüberwindliche Übelkeit, die sich ihrer im Alter von zehn Jahren für immer bemächtigt hatte; das abstoßende Gesicht des Fotografen in Alicante, der auf »künstlerische Fotos« spezialisiert war, seine weichen schweißfeuchten Hände, die ihr Gesicht und die nackten Schultern zurechtbogen, ihr langes blondes Haar drapierten, seine Schlangenzunge, die andauernd über die dünnen, blassen Lippen leckte, während er sie aus kalten Echsenaugen anstarrte.
Die schönen Erinnerungen – Lenas Lächeln, die Volleyballspiele, die Tanzveranstaltungen im Club – führten fast immer zu den anderen, den schrecklichsten und düstersten, die sie schon ihr Leben lang zu begraben suchte. Sie wollte nicht daran denken, sie wollte diese Bilder nicht mehr sehen, die sie seit Jahren aus ihrem Gedächtnis gestrichen und im hintersten Winkel der Erinnerung verborgen hatte. Doch in letzter Zeit gehorchte ihr Gehirn den verzweifelten Befehlen nicht mehr, und sobald ihre Wachsamkeit nachließ, sah sie sich erneut mit der Schmach konfrontiert, unfähig, ihr Einhalt zu gebieten, als säße sie geknebelt und gefesselt in einem Kino, in dem ununterbrochen derselbe Horrorfilm lief. Onkel Ismael, der ihr im Musikzimmer hinter verschlossenen Türen ein Päckchen überreichte. »Geh hinter das Sofa, zieh aus, was du unter deinem Rock anhast, und zieh davon eins
Weitere Kostenlose Bücher