Töchter des Schweigens
ihrem Leben und ihrer eigenen Substanz. Selbst an diesem Morgen, als sie sich für die Beerdigung anzog, war der Tod draußen geblieben, auf der anderen Seite der Tür; doch jetzt, im Andachtsraum, umringt von den Freundinnen, die Lena beweinen, hat sich der Tod neben ihr, in ihr niedergelassen, grinst sie an mit seiner Schädelfratze und wartet. Candela weiß, dass die nächste Beerdigung ihre eigene sein wird, dass die Mädels schon bald, vielleicht noch in diesem Sommer, wieder hier zusammenkommen, womöglich in denselben Kleidern, und eine Weile um sie weinen werden. Und hinterher werden sie ihre Asche verteilen und in die Kneipe gehen, um sich auf ihr Wohl zu betrinken, mit der Kraft des Lebens die Gläser klingen lassen und schließlich wieder lachen, bevor sie ihrer Wege gehen, durch die dunklen Straßen wanken bis zu ihren Häusern, wo sie sich in die Arme ihrer Männer schmiegen und vielleicht sogar mit ihnen schlafen werden, wenn sie nicht schon zu betrunken sind. Und am nächsten Tag werden sie verkatert aufstehen, sagen »Für so was sind wir zu alt« und ihr Leben weiterleben, zehn, zwanzig, dreißig Jahre lang, während ihr nur noch ein paar Wochen bleiben, ein paar Monate, wenn sie Glück hat. Und dann wird sie, die alle jetzt für so hart, so mutig, so kämpferisch halten, sich in »die arme Candela« verwandelt haben.
Das verabscheut sie am meisten: für immer »die arme Candela« zu sein, wie Lena, eine Frau, die sich so stark von ihr unterschied wie keine andere, die ihr je im Leben begegnet ist, und der sie dennoch sehr bald gleichen wird, im Tod und in der Erinnerung der einzigen Menschen, die ihr etwas bedeuten.
Rita wird nach London zurückkehren in ihr gewohntes Leben, sie wird noch fünf oder sechs Filme machen, und irgendwann wird sie sie vergessen haben, ebenso wie sie sie nach der Mallorca-Reise dreißig Jahre lang vergessen hatte. Und dann wird die gesamte Existenz von Candela Alcántara sinnlos geworden sein.
Am liebsten hätte sie aufgeheult vor Verzweiflung, sich diesen Körper, der sie im Stich gelassen hat, heruntergerissen und wäre über das Meer zum Horizont geflogen. Sie beißt sich auf die Lippen, senkt den Kopf noch tiefer und versucht, sich auf Soles Worte und Ritas Hand zu konzentrieren, die sich zart wie ein warmer Schmetterling auf ihrem Schenkel niedergelassen hat. Wenn sie doch nur mehr Zeit hätte …
Wenn sie mehr Zeit hätte, könnte sie Rita zurückerobern. Denn Rita liebt sie, sie weiß, dass Rita sie jetzt wieder liebt, auch wenn sie sich fürchtet, auch wenn sie Angst hat, ihr ganzes Leben ändern zu müssen, damit sie zusammen sein können, wieder von vorn anfangen zu müssen, als hätten diese drei Jahrzehnte der Trennung nie existiert. Aber die Zeit läuft ab. Es ist Zeit zu sterben.
Sie nimmt Ritas Hand, drückt sie fest und hört Sole zu:
»Ich sollte vorausschicken«, sagt Sole soeben, »dass wir uns nie mit Anredeformalitäten aufgehalten, sondern einfach angefangen haben zu schreiben, sozusagen mittendrin, ich unterschlage euch also nichts, okay? Ah, und es ist ein langer Brief, ein sehr langer, aber ich glaube, es lohnt sich, denn es geht nur um uns, ihre Freundinnen. Das also sind Lenas Worte:
Trotz allem, Sole, trotz allem, was ich zeitweilig durchmachen musste, trotz allem, was anders kam, als ich es mir erträumt hatte – wir hatten ja alle unsere Träume damals in jenem lang zurückliegenden letzten Schuljahr –, und obwohl ich weiß, dass mein ganzes Leben, und vielleicht auch deines und das der anderen, im Sommer 1974 eine entscheidende Wende genommen hat, so weiß ich doch aus tiefstem Herzen, mit ganzer Seele, dass das Wichtigste in meinem Leben die Clique vom 28sten war; sie zu kennen und zu lieben hat meine Existenz am stärksten geprägt, es war das Beste, was mir je passiert ist. Ich möchte es um nichts in der Welt missen.
Ich weiß auch, dass ihr mich oft für beschränkt gehalten habt, einfältig bis zur Schmerzgrenze, dumm wie Bohnenstroh, ein naives Ding, das den ganzen Tag Maulaffen feilhält, wie Candela immer gesagt hat, wie sie noch heute sagt, wenn wir uns treffen und sie mich dabei erwischt, wie ich Löcher in die Luft starre, was zugegebenermaßen immer öfter vorkommt. Das stört mich nicht, ehrlich nicht. Ich bin von Natur aus verträumt und war nie wie ihr, so aktiv und unternehmungslustig. Dafür habe ich, auch wenn ich nicht weiß, ob ihr das je bemerkt habt, eine gute Beobachtungsgabe; und deshalb glaube ich,
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