Töchter des Schweigens
deine Frage, was aus der Clique vom 28sten geworden ist, beantworten zu können.
Ich muss ein paar Schritte zurückgehen, um ein schärferes Bild zu haben, wie Marga immer sagte.
Erinnerst du dich an unsere Pläne, als wir noch auf dem Gymnasium waren? Du wolltest Model werden. Na ja, zuerst, so mit fünfzehn, wolltest du Stewardess werden wie fast alle hübschen Mädchen mit ein paar Englisch- und Französischkenntnissen, bis dir aufging, dass eine Stewardess nicht viel mehr ist als eine Kellnerin, wenn auch in der Luft, und von da an wolltest du Mannequin werden, so hieß das damals. Du wusstest, dass deine Familie dich lieber tot gesehen hätte als auf einem Laufsteg, doch zu dieser Zeit war die Meinung der Familie schon nicht mehr so wichtig; die Welt wandelte sich, und wir konnten uns auflehnen, oder zumindest glaubten wir das, kindisch, wie wir waren.
Die Einzige, die immer wusste, was sie wollte, war Tere. Und sie hat es geschafft: Sie ist Ärztin geworden. Gynäkologin. Eine hervorragende Frauenärztin, die zudem seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet ist und zwei großartige Kinder hat, die schon langsam erwachsen werden. Sie ist noch wie früher, vernünftig, gut organisiert, gelassen. Und großzügig, Sole, sehr großzügig. Als sie sah, dass ich auf keinen grünen Zweig kam und die Übersetzungen kaum ausreichten, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, gab sie mir eine Stelle in ihrer Praxis mit einem ordentlichen Gehalt, damit ich sorglos leben konnte. Und dabei habe ich lediglich Abitur, obwohl ich später ziemlich viel gelernt habe.
Ana, die immer Rechtsanwältin werden wollte, erinnerst du dich? Sie hat sich letztlich für etwas völlig anderes entschieden und ist Hebamme geworden; darum haben Teresa und ich mit ihr mehr Kontakt als mit den anderen. Sie hatte vor Jahren eine Phase der Wankelmütigkeit, bis sie sich gefangen hatte und schließlich ihre wahre Berufung fand, aber heute ist es eine Freude, sie anzusehen. Sie ist entzückend, zierlich wie immer, aber fröhlich, voller Energie, glücklich. Sie hat endlich den Mann ihres Lebens gefunden, einen sehr netten Kerl aus Asturien und – halt dich fest, Sole! – Polizist. Und das scheint alles geändert zu haben. Sie haben einen bezaubernden Jungen von zehn Jahren – gerade noch rechtzeitig –, und man sieht ihnen an, dass sie glücklich sind, eine richtige Familie. Ich hätte mir Ana nie unter Neugeborenen vorstellen können oder beim Kuchenbacken und Margaritenpflanzen, doch sie hat anscheinend ihren Lebensinhalt gefunden. Sie ist immer noch eine Linke – manche Dinge ändern sich zum Glück nie –, aber keine Politbestie mehr wie früher; von der Kommunistischen Partei war sie, nachdem die legalisiert war, anscheinend schwer enttäuscht, und so hat sie sich zur stillen Revolution entschlossen, von Angesicht zu Angesicht. Du solltest mal sehen, wie sie mit den Frauen umgeht, die sie betreut. So fürsorglich, humorvoll und sanft! Sie hat das alles hinter sich gelassen, Sole, alles. Sie braucht nicht einmal mehr Feministin zu sein, wo sie doch immer so streitlustig war.
Carmen ist noch genauso hübsch und munter. Sie kleidet sich wie eine Dreißigjährige, und es steht ihr. Wenn ich mich so anziehen würde, würden mich die Kinder auf der Straße mit Steinen bewerfen, aber zu Carmen passt es perfekt. Ihre beiden Töchter sind schon älter, und keine von ihnen hat bisher Kinder; somit ist sie nach all den Jahren gescheiterter Beziehungen endlich frei. Jetzt ist sie selbständig, hat einen Laden für Wohnaccessoires, der sehr gut läuft, sie reist viel und lacht viel, über sich selbst und die anderen. Manchmal denke ich, es belastet sie, keinen festen Partner zu haben; wie fast alle Frauen unserer Generation hat man sie dazu erzogen, zu heiraten und ihr Leben lang Ehefrau zu sein. Ich nehme an, dass sie es deshalb zweimal versucht hat, und es würde mich nicht wundern, wenn sie es noch einmal probiert, falls sie sich wieder verlieben sollte. Ich stelle sie mir mit einem wesentlich jüngeren, aktiven, lustigen, energiegeladenen Mann vor, aber sobald ich davon anfange, sagt sie, als »Kinderschänderin« wollte sie nun wahrlich nicht bezeichnet werden, zwar hätte sie sich schon Übleres anhören müssen, aber so was dann doch nicht. Ich nehme an, damit meint sie ihre Schwangerschaft kurz nach der Schule. Weißt du noch, wie damals über sie hergezogen wurde? Es war beinahe das Schlimmste, was einer Familie passieren konnte; denn das
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