Töchter des Schweigens
mit ihrem weißen Hemdchen und dem kleinen, funkelnden Brillanten am Hals.
»Was vorbei ist, ist vorbei, Ana. Man muss nach vorn schauen. Wir haben es bis hierher geschafft und uns für unser Alter ganz gut gehalten.«
Ana nickte, und als sie Rita nach einer Zigarette greifen sah, stand sie auf, um einen Aschenbecher zu holen.
»Neulich«, sagte Rita mit leicht erhobener Stimme, damit ihre Freundin sie in der Küche hören konnte, »als wir uns zum Essen getroffen haben, am Dienstag, was meinst du wohl, wer mir da kurz vorher über den Weg gelaufen ist? Manolo«, fuhr sie fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ich habe ihn erst gar nicht erkannt, weißt du? Er ist fett, prollig, ich weiß nicht, einfach grauenhaft.«
»Schade um den Jungen!«, sagte Ana und stellte Rita einen großen geschliffenen Kristallaschenbecher hin. »Früher war er ganz passabel, rein äußerlich zumindest. Ansonsten war er … na, dir brauche ich ja wohl nichts zu erzählen. Sagen wir mal, ich fand ihn schon immer leicht unterbelichtet. Aber jetzt ist er gar nicht mehr zu ertragen. Er hat sich mit dem Bau von Wohnblocks eine goldene Nase verdient und hält sich für Gott-weiß-wen. Er schaut auf uns alle herab, als wären wir ihm plötzlich nicht mehr gut genug. Mir kann das egal sein, wir waren nie richtig befreundet. Und als er anfing, Carmen zu misshandeln, habe ich kein Wort mehr mit ihm gesprochen, auch nach der Scheidung nicht.«
»Hat er Carmen geschlagen?«
»Ein paarmal, es ist schon ewig her. Bis wir sie alle gemeinsam überredet haben, ihn zu verlassen. Zu der Zeit konnte man sich schon scheiden lassen, und Candela war schon Anwältin. Sie hat ihm abgeluchst, so viel sie konnte, deshalb sind sie sich spinnefeind.«
»Unglaublich, wie viel ich nicht weiß.«
»Na, so unglaublich nun auch wieder nicht. Du hattest seit Jahren keinerlei Kontakt mit uns. Aber es ist sicher befremdlich für dich, dass es so viele Geheimnisse gibt, die du nicht kennst. Früher warst du immer diejenige, die alles wusste.«
»Schon wieder! Das ist ja ein echter Tick von euch!«
Ana zuckte mit den Schultern, als lohnte es sich nicht, darüber zu diskutieren.
»Hör mal, wenn wir schon dabei sind …«
»Wirst du mich jetzt auch fragen, ob ich mit Ingrid schlafe?«, fragte Rita ein wenig ungehalten.
»Aber nein, das ist deine Sache, und, ehrlich gesagt, ist es mir völlig schnuppe, im Ernst. Wonach ich dich fragen wollte, ist etwas Uraltes. Unsere Literaturlehrerin, Doña Bárbara, hatte die einen Liebhaber?«
Rita war einen Augenblick verdutzt und brach dann in schallendes Gelächter aus.
»Ich weiß, im Grunde ist es unwichtig und auch schon über dreißig Jahre her, aber vor einiger Zeit habe ich etwas läuten hören, und offen gestanden platze ich vor Neugierde, weil sie doch so seriös war, so tugendhaft und so eng mit der Staatskundelehrerin befreundet …, erinnerst du dich? Und weil du dich immer so gut mit ihr verstanden hast und manchmal mit ihr im Theater warst …«
Rita steckte sich noch eine Zigarette an und schmunzelte.
»Ja.«
»Was ja?«
»Ja, wir waren zusammen im Theater, und ja, sie hatte einen Liebhaber, obwohl ich den logischerweise nie zu Gesicht bekommen habe.«
»Erzähl schon!«
»Sie kaufte die Eintrittskarten für die Vorstellung und sagte ihrem Mann, sie würde einige ihrer Schülerinnen ins Theater begleiten. Wir gingen miteinander hinein, und nach zehn Minuten stand sie diskret auf, als müsste sie aufs Klo, und ließ mich dort sitzen. Manchmal kam sie gerade rechtzeitig, um mich am Ende abzuholen, und manchmal wartete ich in der Konditorei gegenüber von Santa Ana, bis die zumachte, und ging dann nach Hause. Am nächsten Tag in der Pause berichtete ich ihr von der Aufführung. Sie hat mir nie Einzelheiten erzählt, aber sie war anscheinend wirklich verliebt, obwohl sie nicht wagte, sich von ihrem Ehemann zu trennen, weil sie das ihre Stelle gekostet hätte. Sie schämte sich sehr, mich auf diese Weise zu benutzen, darum schenkte sie mir einerseits Bücher und stauchte mich andererseits im Unterricht zusammen, wenn ich etwas nicht wusste. Nach dem Abitur habe ich sie aus den Augen verloren, ich weiß nicht, ob sie sich letztlich hat scheiden lassen.«
Ana schüttelte den Kopf.
»Nein. Zwar ging jeder seiner Wege, soviel ich weiß, blieben sie aber verheiratet, bis sie an Gebärmutterkrebs starb.«
»Verdammt, die Ärmste! Na, wenigstens hat sie diese schöne Zeit erlebt.«
»Und wie bist du da
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