Töchter des Schweigens
der Staat am allerwenigsten«, bekräftigt Ana.
»Kommt überhaupt nicht infrage. Du wirst das Haus nicht verlassen, Marga.«
»Das kannst du mir nicht verbieten.«
»Selbstverständlich kann ich es dir verbieten. Ich bin dein Vater, und du bist minderjährig. Wenn ihr schon so gut Bescheid wisst, dann werdet ihr auch darüber informiert sein, was in den Großstädten passiert. Die Polizei hat Anweisung, die Demonstranten zu stoppen. Habt ihr denn keine Angst vor den ›Grauen‹? Angeblich hat man welche von außerhalb geholt, weil die hier die Leute nicht kennen und niemanden schonen.«
»Natürlich haben wir Angst vor ihnen«, sagt Ana. »Deshalb schicken sie sie ja los, damit die Leute Schiss bekommen und nicht teilnehmen, aber es ist unsere moralische Pflicht.«
»Sprüche, Sprüche! Ihr immer mit euren großen Sprüchen, aber die ›Grauen‹ schlagen erst zu und fragen dann. Ihr habt das ganze Leben noch vor euch. Wartet mit dem Protestieren, bis es wirklich etwas bringt. Was hat dieser junge Mann oder sonst jemand davon, wenn sie euch mit einem Knüppel den Schädel einschlagen?«
»Man muss einen Rechtsstaat fordern. Wenn wir viele sind und laut schreien, müssen sie uns anhören.«
Carlos verzieht das Gesicht.
»Was seid ihr für Kindsköpfe. Los! Rauf mit euch, da könnt ihr fernsehen oder Schallplatten hören!«
»Es ist uns ernst, Papa. Unsere Freunde warten auf uns.«
»Freunde? Welche Freunde? Sole macht da bestimmt nicht mit und Candela und Tere auch nicht.«
»Nein, natürlich nicht«, sagt Ana und bemüht sich um einen sachlichen Tonfall. »Tere ist die Tochter eines Guardia Civil, und die beiden anderen stammen aus Familien von Rechten. Sie haben noch kein politisches Bewusstsein. Aber Magda kommt sehr wohl mit.«
»Weil sie eine Rote ist«, entfährt es Carlos, der zwar stolz auf seine republikanischen Eltern ist, aber nicht zulassen will, dass seine Tochter sich in Gefahr begibt.
»Ja«, sagt Ana, »wie ich.«
»Was um alles in der Welt weißt du denn schon von Roten und Blauen? Wann bist du geboren, 1957, 58?
»56, genau wie Marga. Ich werde achtzehn. Ich bin alt genug, eigene Entscheidungen zu treffen und mein Möglichstes dazu beizutragen, dass es in diesem Land wieder anständig zugeht.«
Carlos schnaubt.
»Über dich kann ich natürlich nicht bestimmen, aber über meine Tochter schon. Los, geh nach oben!«
Marga sieht ihren Vater fest an, und er begreift, dass sie nicht ohne Weiteres nachgeben wird.
»Du kannst ja mitkommen, wenn du willst«, sagt seine Tochter herausfordernd.
»Ich will aber nicht.«
»Als Carrero Blanco, Francos rechte Hand, umgebracht wurde, hast du Freudentänze aufgeführt. Allerdings nur daheim im Kreis der Familie, schon klar. Meinst du nicht, es ist an der Zeit, auf die Straße zu gehen und etwas zu unternehmen?«
Carlos möchte diese Dinge in Anas Gegenwart nicht diskutieren, also beschränkt er sich darauf, den Kopf zu schütteln.
»Ich frage mich, woher du das hast, Marga.«
»Auch unsere Familie war immer rot, oder etwa nicht? Wir sind immer stolz darauf gewesen, gegen Franco zu sein. Jetzt haben wir Gelegenheit, es zu beweisen.«
Carlos setzt sich auf die zweite Treppenstufe und blickt von unten zu ihnen auf: zwei mutige Mädchen, blutjung, naiv, die keine Ahnung haben, was ihnen alles blühen kann.
»Ist euch denn nicht klar, dass es nicht nur Prügel setzt, wenn ihr beim Demonstrieren erwischt werdet, sondern dass ihr damit auch polizeilich registriert seid? Womöglich lässt euch die Universität dann gar nicht mehr rein.«
»Franco lebt nicht ewig«, sagt Ana sehr ernst.
»Da bin ich mir manchmal nicht so sicher.« Carlos fährt sich mit der Hand über die Stirn. Er fühlt sich plötzlich erschöpft. Einerseits befriedigt es ihn, seine Tochter zu einem so unerschrockenen Mädchen erzogen zu haben, andererseits hat er Angst um sie. Seine Erinnerungen, die eigenen und die seiner Eltern, sind ihm noch sehr gegenwärtig.
Man hört beschwingte Schritte die Treppe herunterkommen, und Tony steht vor ihnen; er trägt Turnschuhe und zieht den Reißverschluss seines Anoraks hoch.
»Geht ihr auch hin?« Offenbar hat er seinen Vater nicht bemerkt. »Los, wir kommen zu spät! Hallo, Papa!« Auf seinem Gesicht erscheint ein breites Lächeln, als sei er angenehm überrascht, ihn dort zu sehen. »Kommst du mit?«
Carlos erhebt sich schwerfällig, und sein Körper fühlt sich mit einem Mal an wie aus Blei.
»Pass auf sie auf, mein Sohn. Kommt
Weitere Kostenlose Bücher