Tödliche Beute
Berufsverkehr hatte nachgelassen, und schon bald sah Austin die grüne Glasfassade des dreißiggeschossigen NUMA-Gebäudes oberhalb des Potomac in der Sonne funkeln. Als er sein Büro betrat, stöhnte er auf. Seine tüchtige Sekretärin hatte die rosafarbenen Telefonnotizen, auf denen sein Rückruf erbeten wurde, zu ordentlichen Stapeln aufgeschichtet.
Außerdem musste er sich durch eine wahre Flut von E-Mails wühlen, bevor auch nur daran zu denken war, dass er einen Bericht über Oceanus verfasste.
Ah, das aufregende Leben eines Draufgängers! Er öffnete sein elektronisches Postfach, stufte nach kurzer Prüfung die Hälfte der Mails als unwesentlich ein und löschte sie. Dann blätterte er die Telefonzettel durch und stieß auf eine Nachricht von Paul und Gamay. Die beiden waren nach Kanada geflogen, um sich eine Oceanus-Firma vorzunehmen. Zavala hatte auf dem Anrufbeantworter erklärt, dass er am heutigen Abend rechtzeitig genug für eine heiße Verabredung heimkehren würde. Gewisse Dinge änderten sich eben nie, dachte Austin kopfschüttelnd. Sein gut aussehender und charmanter Partner war bei der Damenwelt Washingtons überaus beliebt. Kurt seufzte und startete die Textverarbeitung. Er war mit dem ersten Entwurf beschäftigt, als das Telefon klingelte.
»Guten Tag, Mr. Austin. Ich hatte gehofft, Sie im Büro anzutreffen.«
Er lächelte beim Klang von Therris Stimme. »O wie gern wäre ich wieder auf hoher See. Ihr Rückflug mit der Concorde ist reibungslos verlaufen, nehme ich an.«
»Ja, aber ich weiß nicht, weshalb ich mich so beeilt habe. Mein Fach quillt von Protokollen und Schriftsätzen über. Doch ich habe nicht angerufen, um mich zu beklagen. Ich möchte mich gern mit Ihnen treffen.«
»Bin schon unterwegs. Vielleicht ein Spaziergang.
Cocktails und Abendessen. Und dann, wer weiß?«
»Das ›wer weiß‹ muss vorerst noch warten. Es geht ums Geschäft. Marcus will mit Ihnen reden.«
»Ich kann Ihren Freund langsam nicht mehr leiden. Er mischt sich ständig in etwas ein, das durchaus die Liebesaffäre des Jahrhunderts werden könnte.«
»Es ist wichtig, Kurt.«
»Okay, ich werde mich mit ihm treffen, aber nur unter einer Bedingung: Es muss heute Abend sein.«
»Einverstanden.«
Sie nannte Austin Zeit und Ort. Ungeachtet Therris Charme hatte Kurt dem Gespräch mit Ryan vor allem deswegen zugestimmt, weil er in einer Sackgasse steckte und auf neue Erkenntnisse hoffte. Er legte auf, lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück und verschränkte die Hände im Nacken. Sogleich kam ihm wieder Oceanus in den Sinn, denn als er den Arm hob, schmerzte seine Brustverletzung und fungierte als wirksame Gedächtnisstütze.
Er fragte sich, ob die Trouts wohl etwas herausgefunden hatten. Ihrer ersten Nachricht war keine weitere gefolgt.
Kurt versuchte, sie über ihre Mobiltelefone zu erreichen, doch niemand meldete sich. Er machte sich keine Sorgen.
Paul und Gamay waren absolut in der Lage, auf sich aufzupassen.
Dann rief er Rudi Gunn an, den stellvertretenden Leiter der NUMA, und verabredete sich mit ihm zum Mittagessen. Rudis weithin berühmtes analytisches Geschick würde eventuell dazu beitragen können, das verflochtene Dickicht rund um den geheimnisvollen Konzern zu durchdringen.
Als Gunn den Entwurf las, interessierte er sich sofort für Aguirrez und fragte, ob eine Verbindung zwischen dem baskischen Terrorismus und dem gewaltsamen Vorgehen von Oceanus bestand. Aguirrez hatte von einem Vorfahr namens Diego erzählt. Austin überlegte, wie sehr der Baske von seiner Familiengeschichte besessen war, und kam zu dem Schluss, dass dieser Umstand genauere Betrachtung verdiente, denn wie Kurt aus eigener Erfahrung wusste, stellte die Vergangenheit stets den Schlüssel zur Gegenwart dar. Er benötigte jemanden, der ihm den Weg zum Anfang des sechzehnten Jahrhunderts weisen konnte, und musste unwillkürlich an eine ganz bestimmte Person denken. Austin nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer.
21
Der weltberühmte Marinehistoriker und Gourmet St. Julien Perlmutter erlebte einen Moment höchster Verzückung. Er saß auf der Terrasse einer dreihundert Jahre alten toskanischen Villa, von der aus man nicht nur einen atemberaubenden Ausblick auf die wogenden Weinberge hatte, sondern in der Ferne zudem den Dom der Renaissancestadt Florenz aufragen sah. Der breite Eichentisch vor Perlmutter bog sich unter der Last italienischer Speisen, von duftender Wurst aus heimischer Produktion bis zu einem dicken, nur
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