Tödliche Ernte
erzählte ihr die zensierte Fassung. »Warum war Chesa denn gestern Abend noch bei dem Bestatter?«
Sie schnalzte mit der Zunge. »Chesa war ein Kind mit tiefen Gefühlen. Ein liebevolles Mädchen. Sie sagte mir, sie wolle ihre Schulden bei Mr McArdle begleichen. Sie kämpfte gegen diesen schrecklichen Kummer an. Wer hat sie getötet, sagten Sie?«
»Die Polizei geht davon aus, dass es ein Mann namens Roland Blessing war.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hoffe sehr, dass er nicht auch noch Mr McArdle etwas angetan hat. Der hat mir nämlich diese Anstellung besorgt, als es mir sehr schlecht ging.«
Meine Kehle war ausgedörrt, und ich nahm einen Schluck Tee. »Wollen Sie mir nicht von den beiden Frauen erzählen?«
Sie legte einen gekrümmten Finger an die Wange und pochte dreimal dagegen. »Aber ja. Ich habe auf beide aufgepasst, als sie noch Kinder waren. Hatten es faustdick hinter den Ohren, die beiden. Ich kann es nicht fassen, dass sie nicht mehr da sind.« Tränen sammelten sich in den Falten um ihre Augen.
Ich erzählte ihr, dass ich Chesa als Kind gekannt hatte. »Ich wünschte, ich hätte auch Della gekannt.«
Sie klopfte sich auf den Schoß, und eine schwarze Katze rollte sich darauf zusammen. »Chesa ist weit herumgekommen, hat aber immer Kontakt gehalten. Aber Della. Die kam selten zu Besuch. Die Drogen. Der Alkohol. Das Kind war entwurzelt, und trotzdem hat sie sich nur unregelmäßig bei ihrer Schwester oder mir gemeldet. Ich glaube, dass sie so verschlossen war, weil sie so stolz war. Und weil sie sich geschämt hat.«
»Wegen des Drogenmissbrauchs?«
»Und weil sie Geld mit Männern verdient hat. Wussten Sie, dass sie vor Jahren noch gemodelt hat? Oh, ja. Bei diesem Aussehen dachte ich, sie wird es weit bringen. Aber das war nicht von Dauer. Wie so vieles bei Della.«
»Wann haben Sie sie denn zuletzt gesehen?«
»Vor zwei Wochen etwa. Sie sah gut aus. Gesund. Und ihre schönen Augen glänzten. Ich wusste, dass sie von den Drogen weg sein musste, sonst hätte sie mich nicht besucht. Und sie hat mir versprochen wiederzukommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber dazu kam es nicht mehr.«
Die Worte, dass Della vermutlich auf einer Sauftour gewesen war, die zu ihrer Unterkühlung und letztlich zu ihrem Tod geführt hatte, brannten mir auf der Zunge. Und auch die fehlende Leiche sollte ich besser nicht erwähnen. Die alte Frau brauchte nicht noch mehr Kummer. »Es muss ein Schock für Sie gewesen sein, als Sie von Dellas Tod erfuhren.«
»Und was für einer. Danach wurde ich krank, und dieser nette Mr McArdle bot mir an freizunehmen und … Es bricht mir das Herz, dass ich gestern nicht ihren aufgebahrten Leichnam besucht habe. Glauben Sie, das war ein Fehler?«
»Aber nicht doch«, versicherte ich ihr. »Ich habe Roland Blessing erwähnt. Haben Sie ihn je getroffen?«
Sie legte einen Finger an die Lippen. »Nicht, dass ich wüsste.«
Das hatte ich auch nicht erwartet. Blessing musste Chesa gefolgt sein, vielleicht sogar vom Kummerladen aus. Es war schlau von ihm, ihr nicht in die U-Bahn zu folgen, sondern zu warten, bis sie zu dem Bestatter gefahren war. Zu viele Augenpaare beobachteten einen in den öffentlichen Verkehrsmitteln.
»Haben Sie irgendeine Vorstellung, wo Mr McArdle sein könnte?«, fragte ich.
»Nein, keine. Der Mann hat sich mir nicht anvertraut.«
Ich ließ es sein, über Della und Chesa zu sprechen, und Mrs Cheadle fing an, mir ihre Alben aus der Varieté-Zeit zu zeigen. Als ihr die Augen zufielen, wollte ich gehen.
Sie griff nach meiner Hand. »Bitte geben Sie mir Bescheid, wenn Chesas Beerdigung ansteht. Da möchte ich hingehen. Und zu Dellas. Ja, zu der muss ich auch.«
Auf der Rückfahrt zum Büro kehrte ich in Gedanken immer wieder zu Blessings Mord an Chesa zurück, so wie man einen schmerzenden Zahn nicht in Ruhe lassen kann. Wenn doch nur. Wenn nur. Wenn nur.
Verdammt. Diesen Dreckskerl würde ich mir schnappen.
Energisch schaltete ich das Radio ein, um den Verkehrsfunk zu hören. Einige Minuten danach kam die Nachricht über einen Mord in einem Bestattungsunternehmen in Roxbury. Kaum Einzelheiten. Noch kein Verdächtiger gefasst. Die Polizei fahndete weiter.
Ich verspürte eine schreckliche Leere.
Ich hielt an einem Musikladen und kaufte mir eine CD. Als ich weiterfuhr, legte ich Sweet Baby James ein. Das hatte mein Dad besonders gemocht. Und Chesa auch.
Auf der Tremont zwang mich eine rote Ampel, anzuhalten. Ich wünschte, ich hätte mehr Erinnerungen
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