Tödliche Ewigkeit
sagte eine Stimme in seinem Inneren. Er wurde verrückt. Er betete zu Lucie, als wäre sie die Heilige Jungfrau. Um wieder Fuß in der Realität zu fassen, öffnete er die Augen. Zwei Schritte von ihm entfernt saß eine Frau mit sehr langem schwarzem Haar. Sie hatte das Gesicht dem Foto eines Mannes genähert, zu dem sie leise sprach. Um die Verstorbenen herbeizulocken, hatte man vor ihre Bilder auf dem Tisch ihre einstigen Lieblingsspeisen gestellt.
Waren all diese Menschen tatsächlich verrückt, weil sie hier in der Hoffnung versammelt waren, dass die Seelen der Toten an ihrem Festtag zu den Lebenden zurückkehrten?
Jeff wurde bewusst, dass die größte Prüfung seines Lebens nicht die Entlassung aus dem Polizeidienst war; auch nicht die Tatsache, dass alle ihn für verrückt hielten; ja nicht einmal die leidvolle Liebe zu einem Phantom, das vielleicht nur in seiner Einbildung existierte. Nein, es war dieser quälende Zweifel, der ihm keinen Frieden ließ: Hatte er wirklich seine Karriere ruiniert wegen einer Sinnestäuschung, einer Halluzination, einer Wahnvorstellung?
»Lucie«, betete er, »wenn du wirklich in mein Leben getreten bist, wenn du wirklich etwas von mir erwartest, dann gib mir ein unwiderlegbares Zeichen.
Und gib es mir jetzt !«
Leticia ergriff seine Hand.
»Geht es dir nicht gut?«, flüsterte sie.
»Ich bin erledigt. Ich bin nicht einmal mehr sicher, Lucie Milton am Morgen ihres Todes gesehen zu haben. Alle halten es für ein Hirngespinst oder glauben, ich hätte eine andere Frau gesehen und mich dann beim Anblick von Lucies Leiche in ein Delirium hineingesteigert.«
»Seltsam …«
»Findest du?«
»Vor einigen Tagen habe ich mit meiner Kollegin Milena Kaffee getrunken. Sie hat mir eine merkwürdige Geschichte erzählt. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zu deiner …«
Sie hielt nachdenklich inne.
»Nun erzähl schon«, drängte Jeff.
»Du wirst sie verrückt finden.«
»An dem Punkt, an dem ich stehe …«
»Milena stammt aus Ohio. Ihre Großeltern mütterlicherseits hatten eine Farm. Ihre beiden Söhne kämpften im Vietnamkrieg. Eines Abends, als die Großmutter allein zu Hause war, klopfte es an der Tür. Es war ihr ältester Sohn. Sie bat ihn herein. Er rührte sich nicht, sagte kein Wort, sah sie nur lange an. Dann drehte er sich um und verschwand in der Nacht. Überzeugt, dass er Heimaturlaub hatte, wartete sie drei Tage auf ihn. Schließlich bekam sie Besuch von einem Leutnant, der ihr mitteilte, ihr Sohn sei drei Tage zuvor gestorben.«
»Ich verstehe nicht, was das mit meinem Problem zu tun hat«, brummte Jeff.
»Wirklich nicht?«
»Was ist an der Geschichte denn besonders? Der Typ ist während seines Heimaturlaubs ums Leben gekommen.«
»Er ist nicht während seines Heimaturlaubs gestorben, sondern im Kampf gefallen.«
»Du hast gesagt, er sei in Vietnam stationiert gewesen.«
»Dort ist er auch gestorben.«
»An jenem Tag, an dem …«
»Genau an dem Tag und genau zu der Stunde, als ihn seine Mutter gesehen hat.«
»Das ist unmöglich.«
»Bist du nicht selbst mit dem Unmöglichen konfrontiert worden?«
»Aber welche Erklärung sollte es dafür geben?«
»Milena hat mir versichert, dass es viele Berichte über solche Phänomene gibt: Im Augenblick ihres Todes erscheinen manche Wesen ihren Tausende von Kilometern entfernten Verwandten oder Freunden. Als wollten sie sie von ihrem Tod unterrichten. Oder ihnen ein Zeichen geben …«
»Du meinst eine Art Phantom …«
»Ich weiß es nicht.«
»Willst du mir weismachen, dass mir Lucie in dem Moment auf dem Revier erschienen ist, als sie am anderen Ende von Manhattan ermordet wurde?«
»Fühlst du dich nicht seit ihrem Tod von ihr geleitet? Hast du nicht ihre Gegenwart gespürt?«
Jeff fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.
Also hätte er Lucie …
… nie lebend gesehen.
Es wäre lediglich eine Erscheinung, ein Phantom gewesen, das …
Nein, das war unmöglich. Ihre Gegenwart war so stark, so intensiv … Sie war es gewesen.
Es konnte nur sie gewesen sein.
Er hatte Lucie gekannt .
Jeff sprang auf und verließ die Wohnung, ohne Leticia eines weiteren Blickes zu würdigen.
Jeff wälzt sich im Bett hin und her. Wieder findet er keinen Schlaf. Seine Gedanken überschlagen sich so heftig, dass er manchmal verrückt zu werden glaubt.
Und wenn Leticia recht hätte?
Nein.
Nein! Lucie ist zu ihm gekommen, um ihn um Hilfe zu bitten. Sie wurde bedroht. Sie war kein
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