Toedliche Luegen
prallte mit einem entsetzten Aufschrei zurück. Als sie nach der ersten Schrecksekunde zumindest einigermaßen wieder klar zu denken vermochte und den leichenblassen Alain Germeaux erkannte, waren ihre Sorgen um die schleppenden Vorbereitungen für den Besuch der deutschen Tochter schlagartig vergessen. Zwei Fremde hatten den Sohn des Hauses unter den Achseln gepackt und schoben ihn dem Hausmädchen entgegen. Angewidert verzog sie das Gesicht, weil ihr eine fürchterliche Alkoholfahne und der Gestank von Erbrochenem entgegen wehten.
„Den haben wir vor der Stadt im Straßengraben aufgelesen. Er gehört doch hierher?“, hörte sie einen der Männer fragen, der seine Augen hin ter einer verspiegelten Sonnenbrille verbarg.
„Wir dachten , es wäre besser, nicht gleich die Flics zu rufen. In Zukunft sollte er Motorradfahren mit diesem Alkoholpegel lieber sein lassen. Ist auf Dauer einfach gesünder. Leider ist seine Maschine etwas verbeult. Wir haben sie dort drüben abgestellt.“ Er nickte vage in Richtung Straße, dann hob er grüßend seine Hand. „Nun, Mademoiselle, bringen Sie ihn zu Bett. Wie Sie sich denken können, hat er einen mordsmäßigen Rausch auszuschlafen.“
„ Mon dieu, monsieur! “, rief das Hausmädchen entsetzt, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte, und schlug die Hände zusammen. „Das kann einfach nicht wahr sein!“
Sie mühte sich , den mehr als einen Kopf größeren Alain Germeaux zu stützen, und geriet dabei selbst ins Straucheln. „Vielen Dank, meine Herren, für Ihre Hilfe. Das war sehr weitsichtig von Ihnen, nicht die Polizei zu holen. Scherereien mit denen hätten mir heute wirklich noch gefehlt! Geben Sie uns Bescheid, wenn Ihnen irgendwelche Unkosten entstanden sind. Monsieur Germeaux wird Ihnen alles umgehend erstatten.“
„Aber sicher, wir kommen wieder, wenn wir noch etwas von ihm haben wollen. Wir kennen jetzt seine Adresse. Merci bien, mademoiselle . Und auf baldiges Wiedersehen!“
Aus trüben Augen stierte Alain vor sich hin. Er hatte die Botschaft verstanden, war indessen nicht mehr in der Lage, etwas zu erwidern. Er atmete flach und hektisch durch den geöffneten Mund und der Speichel tropfte ihm über die aufgesprungenen Lippen.
Juliette hob seinen schlaffen Arm auf ihre Schulter und zerrte A lain hinter sich her. „Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, Monsieur? Sie hatten geschworen, nie wieder zu trinken, zumindest nicht derart unkontrolliert. Sie müssen den Verstand verloren haben. Jesus, wenn das Ihr Bruder erfährt … nicht auszudenken! Warum provozieren Sie ständig solchen Ärger? Das geht nicht gut. Und wieso muss mir das ausgerechnet heute passieren?“
Ohne auf ihr Gezeter und Geschrei einzugehen , lallte Alain mit schwerer Zunge: „ A bas … vite … Julie .“
„ Vite “, äffte sie ihn verärgert nach und lachte bitter auf. „ Oui, monsieur, vite . Ich frage mich, wie Sie das in diesem erbärmlichen Zustand schaffen wollen. Machen Sie lieber langsam, bevor Sie stürzen und sich ernsthaft verletzen. Sie können von Glück sagen, dass Ihr Bruder noch nicht wieder zurück ist. Er würde Sie umbringen, könnte er Sie so sehen.“
Vor einer Tür im zweiten Stock machte sie schnaufend Hal t und lehnte Alain an die Wand. „Seien Sie vorsichtig, wenn Sie nach oben gehen. Und rufen Sie mich, sollten Sie etwas benötigen. Einen Kaffee vielleicht? Oder lieber Tee?“
Matt versuchte Alain abzuwinken, ließ seine Hand jedoch auf halbem Weg wieder sinken und schloss die Tür mit flatternden Händen auf. „ Entrée interdite “ hatte er vor Jahren mit leuchtenden Lettern auf ein Schild geschrieben und aus gutem Grund hielt sich noch heute jeder daran, wenn Alain nicht ausdrücklich um Eintritt bat.
Schwer atmend stand er am Treppenabsatz zu seinen Zimmern unter dem Dach der Villa. Er zwang sich, die mit Gewalt aufsteigende Übelkeit zu ignorieren. Unablässig schluckte er den wellenförmig nach oben drängenden Alkohol. Das erste Mal, seit er hier lebte, verfluchte er seine Idee, ausgerechnet einen Schiffsniedergang aus dem ausgemusterten Segler seines Adoptivvaters als Zugang zu der kleinen Wohnung einbauen zu lassen. Er fühlte seine Kräfte zusehends schwinden und zitterte am ganzen Körper vor Erschöpfung. Seine vor Dreck starrenden Finger klammerten sich am Handlauf fest und keuchend begann er, sich die steilen Stufen emporzuziehen. Der Boden schwankte unter seinen Füßen, als würde er tatsächlich an Bord eines vom Sturm
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