Toedliche Luegen
sie stocknüchtern gewesen wäre, er hatte ihr gar keine Gelegenheit gelassen, sich Gedanken über seine Einladung zu machen und in aller Ruhe das Für und Wider abzuwägen.
Egal, ob Vater oder nicht. Und genauso egal, ob er sie eigentlich hatte abholen wollen oder sie ihn missverstanden hatte. Nun war sie einmal hier und sie hatte vor, sich von nichts und niemandem ihren Urlaub vermiesen zu lassen. Basta!
Paris! Wie sehr hatten sie ihre Kommilitonen an der Seefahrtsschule um diese Reise beneidet. Lido und Moulin Rouge, Eiffel-Turm und Louvre, Lichterfahrt auf der Seine – das alles würde sie bald nicht mehr bloß von bunten Reiseprospekten kennen. Und das Beste dabei war unbestritten die verlockende Aussicht, in Begleitung eines schwerreichen Gentlemans das Pariser Tages- und Nachtleben genießen zu können.
Dass sie dafür einen hohen Preis gezahlt hatte, wussten tatsächlich die wenigsten ihrer Freunde.
Und hätte Beate bereits in diesem Augenblick auch nur im Geringsten geahnt, welch noch viel höheren Preis sie für eine kurze Zeit der Sorglosigkeit und des Glamours in Paris zahlen würde, sie hätte stehenden Fußes kehrtgemacht und schleunigst das Weite gesucht.
S o dagegen blieb sie wie angewurzelt stehen und blickte mit gemischten Gefühlen an der Fassade des dreistöckigen Hauses empor. Neugierig und gleichzeitig mit einer Portion Ehrfurcht wanderten ihre Augen über das imposante Anwesen, welches in einem sorgsam gepflegten Garten thronte. Die Villa ihres Vaters befand sich zwar lediglich ein paar Autominuten von der Innenstadt entfernt, aber Beate fühlte sich wie in einen kleinen, gemütlichen Ort irgendwo draußen auf dem Land versetzt. Die wenig befahrene Allee wurde von uralten Kastanienbäumen gesäumt, die Luft schmeckte frisch und die modisch gekleideten Fußgänger wirkten alle ungeheuer zufrieden und gelassen.
Sie fuhr sich mit den Fingern durch das staubige Haar und atmete tief durch, um ihren hämmernden Puls zu beruhigen. Hatte sie jetzt gar der Mut verlassen? Wenn ihr Gedächtnis sie nicht arg im Stich ließ, hatte ihr Pierre bereits in Berlin schonend beizubringen versucht, was sie hier erwarten würde. Und die Umgebung, in der sie selber aufgewachsen war, unterschied sich nicht wesentlich von dieser.
„ Grundgütiger, was mache ich bloß? Suse, wieso hast du mich nicht zurückgehalten? Guck dich doch nur mal um, dann musst du mir Recht geben, dass ich nicht hierher gehöre. Answer, du elender Feigling, warum hast du mich nicht gefragt, ob ich bei dir bleiben will? Ich hätte ‚ja’ gesagt. Sofort. Vielleicht hätte ich dich sogar geheiratet. Irgendwann.“
Sie seufzte und ein schiefes Lächeln vertrieb die Wolken über ihrer Stirn. Energisch schüttelte sie den Kopf. Unsinn! Eine Heirat kam für sie überhaupt nicht in Frage. Außerdem ging es hier um nichts anderes als die Vorbereitung auf ihr Sprachstudium, nachdem sie ihre Ausbildung zum Schiffsfunkoffizier völlig vermasselt hatte. Einzig und allein aus diesem Grund war sie nach Paris gefahren und keineswegs zum Spaß. Nicht einmal wegen des äußerst charmanten Mannes, der vorgab ihr Vater zu sein, oder wegen seines ungeliebten Adoptivbruders, der irgendwann ihr Interesse erregt hatte.
Mit brutaler Ehrlichkeit gestand sie sich ein, dass ihre Zustimmung zu dieser Reise das Feigste war, was sie je in ihrem Leben get an hatte. Sie war zu unsicher, zu charakterlos, zu unselbständig, um Pierre eine Absage zu erteilen und ihren eigenen Weg einzuschlagen. Würde das ihr ganzes Leben lang so weitergehen? Dass sie sich vor der Verantwortung drückte und den Weg des geringsten Widerstandes nahm? Sie hatte das deutliche Gefühl, dass es keine Hoffnung mehr für sie gäbe, wenn sie jetzt wieder davonrannte.
„Also, was?“, fragte sie sich vo rwurfsvoll und wahrscheinlich eine Spur zu laut, den irritierten Blicken eines vorbeieilenden Passanten nach zu urteilen.
Willst du hier Wurzeln schlagen? setzte sie ihr Selbstgespräch im Stillen fort. Dafür dürfte es wohl etwas zu heiß sein. Monsieur hat ohnehin bloß das Hinflugticket geschickt. Und deine paar mickrigen Kröten würden nicht mal für einen Snack in der Hühnerklasse ausreichen.
Sie holte erneut tief Luft, schulterte resolut ihre Tasche und stieg die breite Freitreppe zum Portal empor. In das Läuten der Türglocke mischte sich das zaghafte Knurren ihres Magens.
E inen Augenblick später riss jemand die Tür auf, gerade so als hätte man ihr Kommen bereits erwartet.
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