Tödliche Mitgift
Überstunden ebenso wie Erfahrungen, hatte dafür aber das Gefühl, irgendwo dazuzugehören. Als nicht-eheliche Tochter, deren Mutter ihren Stiefvater Günther Liebig geheiratet hatte, als Pia fünf Jahre alt gewesen war, und die kurz darauf Zwillinge geboren hatte, war sie sich oft überflüssig oder gerade mal wohlgelitten vorgekommen. Vielleicht hatte sie sich deshalb schon früh – und mit mehr Trotz als Verstand – in diverse Beziehungen gestürzt, die fast alle kurzfristig zum Scheitern verurteilt gewesen waren. Der Job bei der Polizei vermittelte ihr das Gefühl, einen Platz im Leben zu haben. Das war der Status quo gewesen, bevor sie Hinnerk kennengelernt hatte.
Dass ihre Halbschwester Nele mit einem Mal bei ihr hereinplatzte und Hinnerk auf ihre zutrauliche Art für sich einnahm, irritierte Pia. Nele konnte jeden um den Finger wickeln, zumindest im ersten Moment …
Pia hörte die beiden in ihrem Wohnzimmer lachen. »Möchtet ihr auch was trinken?«, fragte sie, als sie eintrat. Sie war neugierig, was die beiden wohl Amüsantes in ihrem Wohnzimmer entdeckt haben mochten. Pia registrierte die zwei offenen Bierflaschen auf der Fensterbank ihres Atelierfensters und zuckte mit den Schultern. Dann sah sie, was Nele gerade tat. Sie stand mit dem Rücken zum Licht und hielt einen von Pias mit Leinwand bespannten Rahmen in den Händen. Hinnerk lehnte am Fenster und blickte ihr über die Schulter.
»Wow, Pia. Ich hab noch nie ein so leuchtendes Blau gesehen. Das ist irre …«, sagte Nele.
»Nein, Heliogenblau.«
»Ich meine, deine neuen Bilder sind einfach der Hammer. Ich wusste gar nicht, dass du so produktiv bist in letzter Zeit.«
»Du warst vor knapp zwei Jahren das letzte Mal bei mir in Lübeck. Es sind vielleicht sieben oder acht neue Bilder dazugekommen.«
»Du hast trotz deines Jobs noch den Nerv, so was hier zu malen?«
»Nein, es ist umgekehrt. Ich male wegen meines Jobs. Das ist billiger als Therapiestunden und genauso wirksam …«
»Oh – und was bedeutet das ganze Blau …«
»Müllsäcke«, sagte Hinnerk unbehaglich, »blaue Müllsäcke. Gib es her, ich stell es wieder in die Abseite …«
»Nein!« Nele umklammerte den Rahmen und drehte sich von ihm weg. Hinnerk sah verdutzt drein. Pia wandte den Kopf ab, um ihr Lächeln zu verbergen. Wenn er dachte, ihre kleine Schwester sei so leicht zu steuern, dann hatte er sich geirrt, verwöhntes Einzelkind, das er nun mal war.
»Ich hab nämlich die Idee für Pia!«, rief Nele. »Wir organisieren eine Ausstellung mit ihren Bildern. Ein Freund von mir arbeitet in einer Galerie. Den werde ich mal fragen.«
»Nele, die Bilder male ich nur für mich. Es sind keine Kunstwerke, es sind …«
»Man muss das nur richtig vermarkten«, unterbrach Nele sie. »Eine Kripokommissarin, die malt! Dann kommen die Leute, und sie werden auch kaufen … Du musst es doch zumindest mal versuchen, Pia.«
»Schluss damit, Nele. Ich will es nicht.« Pia machte einen raschen Schritt nach vorn und nahm Nele den Rahmen aus der Hand. Diese guckte irritiert, griff dann aber nach dem nächsten Bild, das, mit der Vorderseite zur Wand gelehnt, in ihrer Nähe stand.
»Oh …« Nele riss die Augen auf. Hinnerk, der immer noch hinter ihr stand, verzog genervt das Gesicht.
Pia wusste nicht, wie sie reagieren sollte. »Genau das meine ich: Die sind nichts für unbeteiligte Betrachter!«
»Ich … das ist … das kannst du doch so nicht malen, Pia!«
»Das Bild war in meinem Kopf. Ich konnte nächtelang nicht schlafen. Jetzt, da ich es festgehalten habe, kann ich es weglegen und vergessen.«
Nele schüttelte den Kopf und kaute dabei auf ihrer Unterlippe herum. Endlich ließ sie sich das Acrylbild aus der Hand nehmen. Pia kam nicht umhin, einen kurzen Blick auf das kleine, grau schimmernde Gesicht des Babys mit dem dünnen Schopf von Eiskristallen bedeckter Haare zu werfen, bevor sie das Bild wegstellte. Sie dachte kurz an den toten Säugling, den sie in einer Tiefkühltruhe gefunden hatten. Hinnerk atmete geräuschvoll aus.
»War es das, wonach es aussieht?«, fragte Nele.
»Die Bilder sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.«
»Das war doch ein Baby«, beharrte Nele. »Warum war alles so grau?«
Pia riss der ohnehin schon arg strapazierte Geduldsfaden. »Wenn es dich beruhigt, Nele: Das nächste Mal wird es bestimmt wieder eine Studie in Rot – Blutrot«, sagte sie.
2. Kapitel
P ia Korittki fühlte den Blick ihres Kollegen Heinz Broders im Nacken, als sie den
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