Toedliche Offenbarung
vielen Tagen lächelten wir.
Die Flugzeuge verschwanden am Horizont des klaren blauen Himmels, der Zug setzte nach kurzer Pause seine Fahrt fort.
Wenig später flog eine Bombereinheit surrend über unsere Köpfe, irgendwo in der Ferne hörten wir es krachen, Qualmwolken stiegen auf. Der Zug stoppte erneut, die SS Leute beratschlagten sich. Nach einer Weile bewegte er sich, doch kurz darauf hielten wir und wurden auf einem Rangierbahnhof auf ein Nebengleis umgeleitet. Links von uns Benzinwaggons, rechts Munitionswaggons. Ich glaube, weiter hinten, war ein Waggon der Wehrmacht.
Auf dem Güterbahnhof hatten wir freie Sicht auf einen nahe gelegenen Wald. Josef flüsterte: »Wir sind in Celle. Hier habe ich früher gelebt.« Tränen standen in seinen Augen.
»Was meine Frau und die Kleine wohl machen?«
Ich drückte dem Mann, der mehr als doppelt so alt war wie ich, die Hand und er beruhigte sich wieder.
»Aber dafür kenne ich mich bestens aus. Dahinten ist das Neustädter Holz. Ein ideales Versteck, um auf die Befreier zu warten.«
Aufmerksam beobachten wir, wie alle SS-Bewacher aus dem Zug stiegen. Das Totenkopfzeichen an ihrer schwarzen Uniform war unübersehbar, genau wie das scharf geschnittene Doppel-S auf dem rechten Halskragen.
Einer gab einem Knirps aus der Gegend den Auftrag, aus einem benachbarten Haus Wasser zu holen. »Die Gefangenen haben Durst«, sagte er.
Diese Geste machte mir Hoffnung. Sie war so ungewohnt fürsorglich. Man öffnete auch die Türen der vorderen Waggons. Frauen in Häftlingskleidung stiegen aus und vertraten sich auf dem Bahngleis die nackten Füße.
Vor unserem Wagen stand der SS-Mann, der nach Wasser geschickt hatte. Er war jung, knapp über zwanzig, hatte nicht so verschlossene Züge wie die anderen. Er lächelte uns aus seinen kornblumenblauen Augen an. Er sagte uns, dass es Brot und Margarine gebe, wenn die Lokomotive ausgewechselt sei.
In diesem Moment hörten wir ein Alarmsignal, kurz darauf das Summen der sich nähernden Bomber. Die flogen ganz niedrig und näherten sich in Windeseile. Wie ein Bienenschwarm kamen sie auf uns zu. Wir dachten, dass die uns sehen könnten, einige von uns winkten mit ihren Sträflingsmützen. Der Schwarm schwarzer Punkte verwandelte sich in silberne Streifen, die plötzlich vom Himmel glitten. Hunderte von entklinkten Bomben fielen herab. Direkt auf uns. Ungläubig starrten wir nach oben. Erkannten die uns nicht? Panik brach aus.
Der SS-Mann mit den blauen Augen schrie: »Rette sich, wer kann.«
Er hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als er von einem anderen in SS-Uniform ohne einen Moment des Zögerns erschossen wurde.
Der vordere Teil des Zuges war getroffen, von überall hörte man Schreie, Beine und Arme trudelten körperlos durch die Luft und landeten bluttriefend auf den Schienen. Erst explodierte die Munition in den Güterwaggons neben uns, dann goss sich das Benzin auf die Gleise aus und entzündete sich. Glühende Metallsplitter detonierter Handgranaten bohrten sich mit ihren Spitzen in alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Um uns herum brannte es lichterloh. Man konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen, obwohl das ganze keine drei Minuten gedauert hatte.
Josef sagte: »Los, lass uns abhauen. Im Wald dahinten sind wir geschützt.«
Gerade wollten wir aus dem Waggon nach links auf den Schotter springen, als ein vollgestaubter SS-Offizier mit einer Narbe auf der rechten Wange sein Gewehr auf uns richtete.
»Zurück«, war das einzige Wort, das er uns entgegen donnerte.
Hinter uns im Waggon stand der alte Samuel Feuerstein auf, der mir während der Zugfahrt von seiner Zeit als Pianist erzählt hatte und von seinem Traum, noch einmal an den Tasten eines Klaviers zu sitzen. Der gebrechliche Samuel richtete sich auf und rief: »Wenn die uns treffen, haben wir doch keine Chance. Lass uns raus, damit wir Schutz …«
»Schnauze«, brüllte der Offizier.
»Aber …«
Ein Schuss fiel. Samuel sackte tot zusammen.
Hass stieg mir bis in die Kehle, ich glaubte, an meiner Ohnmacht zu ersticken. Das Gewehr des grinsenden Nazis zielte nun auf mich.
»Euch zeige ich, wer hier zu bestimmen hat, ihr Ungeziefer.«
Mit dem einen Ohr wartete ich auf den Knall, der meinem Leben ein Ende bereiten sollte, mit dem anderen lauschte ich zum Himmel. Aus der Ferne hörte ich erneut das Summen der Bomber. Es schwoll an. Plötzlich waren sie wieder da, genau über uns. Die zweite Angriffswelle prasselte auf uns nieder.
Splitter und Teile
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