Toedliche Offenbarung
mehr Kollegen dabei gehabt. Aber mehr als sechs hatte er auf die Schnelle nicht auftreiben können.
»Urlaubszeit«, hatte sein Vorgesetzter, Kriminalrat Schirbold, gemurmelt. »Sechs sind schon mehr Leute, als ich eigentlich verantworten kann. Bislang liegen keine Anhaltspunkte für ein Verbrechen vor. Nur weil ein Freund Ihrer Tochter …«
Schirbold hatte den Satz in der Luft hängen lassen. Und nicht nur das. Der Kriminalrat hatte unmissverständlich klar gestellt, dass er deshalb nicht in Hannover um Verstärkung bitten würde. Zum einen, weil er sich dort nicht lächerlich machen wollte, zum anderen, weil ihm die Angelegenheit genauso wenig geheuer war wie der Staatsanwältin.
»Ich verstehe gar nicht, wie es Ihnen gelungen ist, die Mackenrodt zu einem Durchsuchungsbefehl zu überreden. Die macht so etwas sonst nicht mal so eben. Schon gar nicht, wenn es um Wörstein geht«, hatte er gemeint und hinzugefügt: »Genauso gut kann man eine Nadel im Heuhaufen suchen.«
Und sich jede Menge Ärger holen. Den letzten Satz hatte Borgfeld aber nur an Schirbolds Augen abgelesen, bevor er die Zimmertür schnell hinter sich schloss, um nicht mit noch weniger Leuten zum Landschulheim zu fahren.
Plötzlich nähert sich von der Straße her ein dunkelgrüner Pick-up. Der Fahrer des Nissans bremst ab, als er die vier Polizeifahrzeuge sieht, dann gibt er Gas und rauscht mit einer aufgewirbelten grauen Staubfahne auf sie zu.
Borgfeld registriert einen jungen Mann um die zwanzig, der ihn angrinst. Das Gesicht mit dem kurzen blonden Haarschnitt wirkt nicht unsympathisch und unterscheidet sich kaum von Sonjas gleichaltrigen Mitschülern. Er trägt ein blaues T-Shirt. Borgfeld überlegt gerade, ob der Fahrer überhaupt zu der Gruppe von Wörstein gehört, als dieser ihm grinsend den Stinkefinger zeigt.
»Verdammt«, flucht Borgfeld. »Doch einer von denen.« Hoffentlich kommt Beckmann bald mit dem Durchsuchungsbefehl.
56
Das Telefon klingelt. Trixi. Im Moment ist Martha nicht danach zumute, der aufgedrehten Stimme ihrer Kollegin zuzuhören. Ein beklemmendes Gefühl macht sich in ihr breit. Mit dem Toten heute Morgen fing es an, das Zusammentreffen mit Max Beckmann tat ein Übriges – und jetzt diese Geschichten aus der Vergangenheit. Sie erwecken eine Zeit zum Leben, die jeder nur zu gern vergessen würde. Hat sie jedenfalls immer gedacht. Nun fällt es ihr schwer, sich von diesem Text zu lösen. Zu eindringlich sieht sie die Bilder des erschossenen Samuel vor sich, glaubt sein Schreien zu hören, spürt die Angst und die Hoffnungslosigkeit der Menschen und will gleichzeitig wissen, was aus Aaron Borgas wird.
Enttäuscht sieht sie, dass die nächste Eintragung von Clara nicht ihn, sondern Herbert Müller betrifft. Trotzdem fängt sie an zu lesen.
Was wollen Sie denn? Ich habe Ihnen doch schon alles gesagt.
Der Fliegerhorst Celle-Wietzenbruch liegt unweit des Neustädter Holzes. Das ist so ein sumpfiges, mooriges Gelände, fürchterlich. Dauernd sinkt man ein. Der Flughafen ist eine einzige Katastrophe, obwohl man während des Krieges den Boden mit Bitumen vermischt hat. »Gummipiste« nannten die Piloten die Landebahn.
Im vorletzten Kriegsjahr wurde in einer Flugzeughalle die Endfertigung der Junkers Ju-88 durchgeführt, sonst war da nicht viel los. Die Hallen hatten einen Tarnanstrich, die Amis und Tommys haben die überhaupt nicht entdeckt.
Ja, die Flakgeschütze standen in der Nähe von Wietzenbruch, versteckt hinter einem Birkenwäldchen.
An dem Sonntag, als ich da zum ersten – und einzigen – Mal Dienst hatte, tauchten am Vormittag die Aufklärer auf. Dann folgten Bomber, die noch einmal abdrehten. Es gab Angriffe auf die Ölraffinerien in Nienhagen, und wir dachten schon, wir wären davongekommen. Kurz vor 18 Uhr schwoll das Summen und Surren an.
Drei komplette Bombergeschwader der Amerikaner steuerten auf uns zu. Später habe ich gehört, dass es die 9. US-Luftflotte war. Erst sahen wir einzelne Flugzeuge. Unser Flakgeschütz feuerte pausenlos auf sie, aber wir hatten keinen einzigen Treffer.
Schnell wurden es mehr Flugzeuge, über hundert. Innerhalb weniger Minuten klinkten sie Tausende von Bomben aus. 240 Tonnen sollen es gewesen sein. Ihr Ziel waren die Bahnanlagen mit den Brücken und Unterführungen.
Ob ich Häftlinge im Wald gesehen habe? Was haben Sie immer mit diesen Häftlingen?
Ja, ein paar liefen da herum, die SS trieb sie zusammen. Drei von denen hielten die bereits gefangen
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