Toedliche Offenbarung
sechs zu. Das nächste Interview hat Clara mit Aaron Borgas geführt. Das liest sie noch und danach ruft sie Trixi zurück.
Der Güterbahnhof brannte. Es gab immer wieder Explosionen und Schreie. Wir liefen los, ohne uns noch einmal umzudrehen. Mein Bein schmerzte, aber ich achtete nicht darauf.
Zuerst versperrte uns ein Gemüsegarten den Weg. Wir rissen mit den bloßen Händen eine Latte aus dem Zaun und zwängten uns durch die Lücke. Wir rannten durch feuchtes, stoppeliges Erdreich, kamen zur nächsten Umzäunung, kletterten über die niedrige Drahtbegrenzung in den Nachbargarten. Der war frisch umgegraben. Am Ende des Beetes stand hinter einer Buchsbaumhecke eine kleine, quadratische Laube. Die Tür war zu unserer Überraschung nicht abgeschlossen. Mit einem Satz waren wir drinnen. Völlig außer Atem ließen wir uns erst einmal auf den Fußboden fallen und schöpften Luft.
Beim Laufen hatte ich nur daran gedacht, weiter zu kommen und nicht erwischt zu werden. Kaum saß ich jedoch, spürte ich ein höllisches Ziehen und Brennen in meinem Bein. Ich schloss die Augen, versuchte den Schmerz zu verdrängen, kämpfte darum, nicht ohnmächtig zu werden. Ich war überrascht, welche Kräfte noch immer in mir schlummerten.
Vor meiner Inhaftierung habe ich in Warschau geboxt, sogar noch, als ich in der Buchhaltung der Schuhfabrik meines Vaters gearbeitet habe. Ich war richtig gut im Ring. Das sieht man mir heute vielleicht nicht mehr an, aber damals erst recht nicht. Ich war ein körperliches Wrack, und dieses Laufen durch die Gärten hatte mich völlig fertig gemacht. Vor allem mit der klaffenden offenen Wunde am Bein. Der Stoff, den mir Josef als Verband fest um den Oberschenkel gewickelt hatte, war blutdurchtränkt. Völlig geschwächt hockten wir auf dem Fußboden. Josef erkannte schnell den Ernst der Lage.
»Wir brauchen etwas zu essen und zu trinken. Sonst schaffen wir das nicht.«
Während ich benommen auf dem Boden saß, sah Josef sich im Gartenhaus um. Eine Flasche Schnaps stand im Regal hinter einem Vorhang. Ohne viel zu fragen, deutete Josef auf meine blutige Kompresse, entfernte sie mit einem Ruck. Tränen schossen mir in die Augen. Er riss einen karierten Arbeitskittel in Streifen, tränkte einen Teil davon mit Alkohol, drückte den Stoff auf die Wunde und wickelte mir den neuen Verband um. Auf dem Haken an der Wand hingen auch zwei Arbeitsjacken und Hosen. Schnell schlüpften wir in die fremde Montur.
Unter dem Tisch entdeckte ich ein paar verschrumpelte Äpfel. Wir bissen hinein und verschlangen das Obst mit Kerngehäuse und Stiel. Beim zweiten Apfel waren wir schon etwas ruhiger und unsere Stimmung besserte sich zusehends. Josef nahm den Schnaps und zwei Äpfel, ich steckte die anderen sechs ein.
In der Ferne hörten wir Schüsse. Sie kamen näher. Also rannten wir los, kletterten durch eine Lücke des Zaunes in den nächsten Garten, versanken bis zu den Knöcheln im feuchten, weichen Erdreich. Ich trug Schuhe, die Schutz vor der aufsteigenden Kälte boten. Josef hingegen lief barfuss über den eisigen Boden.
Ausgemergelt, wie wir waren, blieben wir nach einer Weile stehen, um zu verschnaufen. Im Dämmerlicht sah ich in der Ferne Häuser. Das Geballer hatte uns nach links abgetrieben. Der Wald lag mehr rechts.
»Los«, flüsterte Josef. »Wir müssen Richtung Bäume laufen.«
Kurz vor dem nächsten Kleingartenzaun stolperten wir fast in eine Erdhöhle. Sie war ziemlich groß. Hölzer verstärkten die Wände und ragten als Stolpersteine oben heraus. Eine Decke fehlte. Mit dem letzten Abendlicht warf ich einen Blick in die Grube. Unter mir graublaue Streifen. Zwei andere Gefangene sahen unsere Hosenbeine mit angstvoll geweiteten Augen an. Sie erkannten uns in den Arbeitsjacken aus der Laube nicht. Aber wir sie. Mit Dimitri und Pjotr aus der Ukraine hatten wir in Drütte in der gleichen Baracke geschlafen. Die beiden Kriegsgefangenen sprachen kaum Deutsch. Dimitri mit seinem gedrungenen Hals wirkte trotz seiner Magerkeit bullig. Pjotr hatte wilde Augen, die jeden Wärter zu verschlingen drohten. Der alte Samuel hatte sich einmal gewundert, dass er überhaupt noch am Leben war.
»In Mauthausen wäre er damit nicht weit gekommen. Ich war da zwei Jahre inhaftiert. Der Lagerarzt dort ließ Gefangenen mit gutem Gebiss den Kopf abschneiden, um sie zu kochen und für die Schreibtische seiner Parteikollegen als Schmuck zu präparieren. So ein paar funkelnde Augen in Alkohol auf dem Beistelltisch
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