Toedliche Offenbarung
hätten ihn sicher interessiert.«
Pjotr und Dimitri hielten beide ein Brot in der Hand, das sie bei der Verteilung vor dem ersten Bombenangriff ergattert haben mussten. Ich hatte auf der rechten Seite des Bahnsteiges einen Stapel auf einem Pritschenwagen gesehen.
Sie reichten uns wortlos ein Stück und Josef ihnen im Gegenzug die Flasche mit dem Korn. Schweigend nahmen alle einen Schluck, brachen vom Brot ab, kauten, tranken erneut, aßen wieder.
Wir fühlten, wie die Kräfte zurückkamen. Josef und ich steckten ein Brot ein, die anderen bekamen die Schnapsflasche.
»Wir wollen Richtung Wald«, zischte Josef den beiden zu. »Wollt ihr mit?«
Sie verstanden und nickten.
Plötzlich hörten wir Schüsse ganz in unserer Nähe. Keine 200 Meter entfernt. Wie schon im Güterzugwaggon, robbte ich mich vorsichtig nach oben und sah über den Rand des Erdbunkers. Linkerhand, am Ende des hinter uns liegenden Gartens, stand ein Gartenhaus. Zwei junge Burschen liefen mit Gewehren auf die Laube zu und schossen immerzu. Zwei Häftlinge in gestreifter Kleidung kamen mit erhobenen Händen aus der Holzhütte. Die Jungs fuchtelten mit ihren Waffen herum und die Bedrohten knieten sich hin. Es fielen Schüsse. Erst zwei, dann drei, dann vier. Die beiden Sträflinge fielen zur Seite und blieben bewegungslos liegen. Die Jungen mit kurzen Hosen und Kniestrümpfen schlugen sich auf die Schultern und veranstalteten einen Freudentanz.
»Los, weg hier«, zischte ich nach unten.
Wir liefen so schnell wir konnten nach rechts, Richtung Neustädter Wald. Einmal drehte ich mich noch um. Außer den Jungen waren jetzt zwei SS-Männer wie aus dem Nichts aufgetaucht. Ich erkannte sie an ihren schwarzen Uniformen.
Sie standen in Höhe der Laube und redeten mit den Jungen.
Dimitri und Pjotr verloren wir unterwegs, aber wir konnten nicht warten. Jeder rannte um sein eigenes Leben. Mir blieb irgendwann die Luft weg und ich raunte Josef zu, dass ich bei der nächsten Gelegenheit eine Pause bräuchte.
Er hörte mich nicht, sondern verschwand in Richtung des kleinen Birkenwäldchens. Ich setzte mich völlig atemlos unter einen Busch im Heidegestrüpp und versuchte, zu Kräften zu kommen. Meine Wunde blutete wieder und ich fühlte mich schlapp. Ohne mich war Josef besser dran, das war mir klar – und ich wollte ihn nicht mehr mit mir belasten.
In diesem Moment hörte ich den Ruf: »Halt!«
Der Befehl kam nicht von weit her. Direkt hinter den Birken musste jemand stehen. Plötzlich sah ich ein Flakgeschütz und vier, fünf sehr junge Männer mit Gewehren im Anschlag davor. Keine sechzehn waren die, eher jünger, aber da kann ich mich auch täuschen. In ihren blauen Overalls und den Stahlhelmen sahen sie wie verkleidet aus. Sie wedelten mit den Waffen herum und schrien: »Halt! Halt!«
Eine Gruppe von etwa fünfzehn Häftlingen in gestreiften Hosen und Jacken kam mit erhobenen Händen aus den Büschen. Sie gingen langsam auf die Jungen zu, fast wie in Zeitlupe. Die von der Flak sagten etwas, das konnte ich nicht verstehen, weil es vom Bahnhof her immer noch Explosionen gab. Bis auf das Wort Schnaps. Irgendjemand hatte Schnaps. Pjotr und Dimitri waren dabei.
Die Gefangenen legten sich auf den Boden und die Jungen stellten sich vor ihnen auf. Plötzlich schallten Schüsse zu mir herüber. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Dann war für einen Moment Ruhe. Ich sah, dass einige der Häftlinge aufgesprungen und im Zickzack in meine Richtung türmten. Die mit den Stahlhelmen liefen mit angelegten Gewehren hinterher.
Ich presste mich dichter in den Busch, damit mich niemand entdeckte. Dann rannte Dimitri an mir vorbei. Ich erkannte ihn sofort an seiner bulligen Figur und dem gedrungenen Hals. Er bemerkte mich nicht. Ich zischte: »Dimitri.« Lauter rufen durfte ich nicht. Das wäre zu gefährlich gewesen.
Dimitri schlug direkt hinter den Birken einen Haken. Ich konnte es genau sehen, hoffte mit ihm, dass er es schaffte. Sein Vorsprung wuchs. Da stolperte er über eine Baumwurzel. Plötzlich lag er bäuchlings auf dem Boden einer kleinen Anhöhe, etwa zehn Meter von mir entfernt. Bevor er wieder auf den Beinen war, entdeckte ihn einer der Verfolger. Dimitri winselte: »Nicht schießen, meine Frau, meine Mut …«
Ein Junge mit Overall und Stahlhelm stand genau hinter ihm, in den Händen eine Pistole. Er streckte den Arm, zielte und feuerte direkt auf Dimitris Hinterkopf. Ein lautes Krachen drang zu mir herüber. Kein Schrei. Nichts. Nur ein Uhu war zu
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