Tödliche Pralinen
Blouvette-Targuy, dem Freund seines Vaters. Darüber hinaus trieb er
sich auffallend oft in der Bibliothèque Nationale rum, wahrscheinlich
aus beruflichen Gründen.
Meine erzwungene Untätigkeit ging mir immer mehr
auf die Nerven. Ich fragte die Krankenschwester, wie lange ich wohl noch die
Rolle der Kameliendame spielen müsse. „Mindestens noch drei Tage“, war die
Antwort.
„Aber ich kann doch schon aufstehen?“
„Mindestens noch drei Tage“, wiederholte sie
unbeirrt. Schlagartig stieg die Quecksilbersäule meines Fieberthermometers. Ich
fühlte mich plötzlich wieder hundsmiserabel, schwörte denen, die für meinen
Zustand verantwortlich waren, ewige Rache und unternahm den Versuch, Thomas
Jannet aus meiner Klause zu schreiben. Nach mehreren Versuchen bekam der Brief
folgendes Aussehen:
Verehrter Maître, ich habe mich entschlossen,
den Beruf des Detektivs aufzugeben. Ich werde Journalist. Das ist der einzige
Weg, Leute wie Galzat mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Mein Freund Marc
Covet quält sich im Moment mit dem Skandal von Montfleury ab. Ich könnte einen
Artikel darüber beisteuern. Schlagzeile und Untertitel habe ich bereits im
Kopf. Und Sie wissen ja, in diesem Job ist die Schlagzeile das A und O. Ich
bitte Sie — als rhetorikbegeisterten Advokaten! — um Ihre Meinung. Hier der
Text:
DIE BETRÜGER VON MONTFLEURY, FRANCIS PAUL UND
FERNAND DUVAL, HEISSEN IN WIRKLICHKEIT PAOLI UND TANNEUR. DER EINE IST DER
STADTBEKANNTE GANGSTER, DER ANDERE STEHT UNTER VERDACHT, SEINEN EIGENEN SOHN
ERMORDET ZU HABEN.
Was halten Sie von meinem Entschluß, eine journalistische
Karriere in Angriff zu nehmen? Glauben Sie, ich habe Erfolgschancen? Übrigens,
ich danke Ihnen für Ihre liebevolle Fürsorge. Der korsische Wein ist
vorzüglich! Ich hoffe, bald entlassen zu werden. Doch wieviel verlorene Zeit!
Und Zeit ist Geld! Ungefähr 25000 Francs.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr
Nestor Burma
Ich steckte den Brief in einen Umschlag, klebte
diesen zu und eine Marke drauf und gab ihn der Krankenschwester, die gerade
abgelöst wurde.
* * *
Ich stand. Zwar auf etwas wackligen Beinen, aber
ich stand. Am frühen Nachmittag kam Julien Théron mich besuchen. Der Maler weiß
immer, womit er mir eine Freude machen kann, und so hatte er Catherine Larcher
mitgebracht. Sofort redete ich von dem neuen Giftmord, obwohl sich außer mir so
recht niemand dafür zu begeistern schien. Manchmal fehlt es mir eben an
Taktgefühl und Sensibilität. Ich sagte zu der jungen Frau, daß ich mich über
ihr Desinteresse wunderte, da ich ihr leidenschaftliches Interesse für diese
Art von Verbrechen noch gut in Erinnerung hätte. Wie habe sie noch gelautet,
ihre Theorie über die dunklen Machenschaften ausländischer Anarchisten? Jetzt
sei es erwiesen: Gutt und Lambert behandelten ihre Produkte, um alle
Schleckermäulchen von Paris nach und nach zu vergiften!
Mein Scherz kam nicht so gut an, und bald darauf
verabschiedeten sich meine Gäste.
Im selben Augenblick tauchte im Türrahmen eine
Gestalt auf, die ich am wenigsten erwartet hätte: Dr. Blouvette-Targuy gab mir
die Ehre!
„Hübsches Kind, nicht wahr?“ sagte ich
augenzwinkernd, da ich seinen bewundernden Blick gesehen hatte.
Er gab mir die Hand.
„Ja, ganz nett. Kennen Sie sie? Sieht aus wie ‘ne
Irre.“
„Mehr oder weniger. Das ist gleichzeitig die
Antwort auf ihre Frage und auf Ihre Beurteilung. Würde sie liebend gerne besser
kennenlernen.“
„Vom ärztlichen Standpunkt aus befürchte ich
fast eine Gegenindikation“, bemerkte er.
„Aber mir geht’s doch schon ganz prima!“
protestierte ich. „Werde bald hier rauskommen... Und Sie, Doktor, wie geht es
Ihnen?“
„Was? Ach so... Ja, ja, ganz gut.“
„Was verschafft mir das Vergnügen?“
„Einer meiner ehemaligen Kommilitonen ist in
diesem Hospital beschäftigt, und da ich was mit ihm zu besprechen hatte, hab
ich gedacht, ich schau mal bei Ihnen rein. Entschuldigen Sie den Überfall...“
Er zog einen Stuhl an mein Bett und setzte sich.
Die Märchenstunde konnte beginnen. Ich erzählte ihm von meinem „Unfall“. Hatte
das Gefühl, daß er sich nicht sonderlich um meine Gesundheit sorgte, sondern
wegen etwas ganz anderem gekommen war.
„Na, Gott sei Dank haben Sie’s überlebt“, sagte
er zerstreut. „Das ist die Hauptsache.“
„Ja.“
„Dann können Sie ja bald wieder loslegen.“
„Loslegen?“
„Ich meine, Ihrer Arbeit nachgehen. Übrigens...
Was... äh... Was
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