Tödliche Täuschung
Gebärde die Hände in den Taschen und starrte Rathbone an, während sie die Straße hinunter zu dem überfüllten Restaurant gingen, wo sie zu Mittag essen wollten. Sie drängten sich an anderen Menschen vorbei, ohne sie wahrzunehmen.
»Waren Sie einmal in Athen, Sir Oliver?«, fragte er. »Haben Sie den Parthenon im Sonnenlicht gesehen?« Seine Augen leuchteten vor Begeisterung. »Es ist das Werk eines Genies. Alles weist geringfügige Maßabweichungen auf, um dem Beobachter die Illusion von Vollkommenheit zu vermitteln… Und das ist perfekt gelungen.« Er machte eine weit ausholende Bewegung mit den Armen und hätte dabei um ein Haar einen graubärtigen Herrn getroffen. Er entschuldigte sich geistesabwesend und wandte sich dann wieder Rathbone zu.
»Können Sie sich die Geisteshaltung der Männer vorstellen, die das gebaut haben? Und da stehen wir nun zweitausend Jahre später und sind sprachlos vor Ehrfurcht angesichts solcher Schönheit.«
Unbewusst ging er immer schneller, und Rathbone seinerseits musste sein Tempo beschleunigen, um mit ihm Schritt zu halten.
»Und die Toskana!«, fuhr er mit glühendem Gesicht fort. »Im Grunde aber nicht nur die Toskana, sondern ganz Italien: Venedig, Pisa, Siena. Aber die Architektur der toskanischen Renaissance hat diese schlichte Erhabenheit an sich! Klassisch, ohne großspurig zu sein. Ein hervorragendes Gefühl für Farbe und Proportion. Man könnte sich diese Dinge ewig ansehen. Die Arkaden… die Kuppeln! Haben Sie die Rundfenster gesehen? Das alles scheint ein Teil der Natur zu sein, scheint ihr direkt zu entspringen, statt mit ihr zu konkurrieren… Es ist alles weich und flüssig. Nichts ist gegen den Strich gebürstet. Das ist das Geheimnis. Die Einheit mit der Landschaft, niemals entfremdet, niemals eine Beleidigung für das Auge oder den Geist. Und sie wussten genau, wo sie die Terrassen platzieren mussten und die Bäume, vor allem die Zypressen. Sie führen den Blick auf perfekte Weise von einem Punkt zum nächsten.«
»Das Restaurant«, unterbrach Rathbone ihn.
»Was?«
»Das Restaurant«, wiederholte er. »Wir müssen etwas zu Mittag essen, bevor wir zurückgehen.«
»Oh. Ja… ja, vermutlich.« Es war ihm offensichtlich entfallen. Es war unbedeutend.
Als erste Zeugin des Nachmittags wurde Zillah Lambert selbst gehört. Sie legte den Eid mit großem Ernst und zitternder Stimme ab und b lickte zu Sacheverall auf. Ihr Gesicht war bleich, aber sie wirkte dennoch gefasst in ihrem cremefarbenen, mit blassem Grün eingefassten Kleid, das ihr wunderbar stand. Ihr volles Haar hatte sie hoch aufgetürmt, statt es streng zurückzubinden; sie sah verletzlich und sehr jung aus. Trotzdem ging etwas Leuchtendes von ihr aus, das an einen frischen Sonnentag im April erinnerte.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, lächelten die Geschworenen ihr zu. Sie nahm die Existenz dieser Männer überhaupt nicht wahr, sondern sah nur Sacheverall an. Nicht ein einziges Mal verirrte sich ihr Blick zu Melville, als könne sie es nicht ertragen, ihn anzusehen.
»Ich bedaure, dass dies alles notwendig ist, Miss Lambert«, begann Sacheverall seine Befragung, gerade so, wie Rathbone es vorhergesehen hatte. »Aber es ist absolut unvermeidlich, sonst würde ich Sie nicht in diese Verlegenheit bringen und dieser Pein aussetzen.«
»Ich verstehe«, flüsterte sie. »Bitte tun Sie, was Sie tun müssen.«
Sacheverall schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Miss Lambert, ist Mr. Killian Melville im Verlauf der letzten zwei Jahre ein ständiger Gast in Ihrem Elternhaus gewesen?«
»Ja, Sir.«
»Hat er nur Ihren Vater aufgesucht, oder auch Ihre Mutter und Sie selbst?«
»Er hat auch mit uns sehr viel Zeit verbracht«, erwiderte sie.
»Er hat oft mit uns gespeist und ist dann anschließend bis spät in den Abend hinein geblieben. Er und ich, wir haben über alle möglichen Dinge geredet, über unsere Hoffnungen und Überzeugungen, unserer Erfahrungen, über Dinge, die uns schön oder interessant erschienen, komisch oder traurig.« Sie blinzelte heftig, um die Tränen zu unterdrücken. Dann sah sie für eine Sekunde zu Melville hinüber, wandte aber sogleich wieder Blick ab. »Er war der beste und freundlichste Gefährte, den ich hatte. Er war klug und ehrlich und konnte mich besser als irgendjemand sonst zum Lachen bringen. Er hat mir wunderbare Geschichten von einigen der Orte erzählt, die er besucht hatte, von Dingen, die er gesehen hatte, und darüber, wie er zu ihnen stand… und von den
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