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Tödliche Täuschung

Tödliche Täuschung

Titel: Tödliche Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Tag.
    Rathbone fühlte sich erbärmlich. Er hatte einen geringfügigen Sieg über Sacheverall errungen, indem er auf Zillah Lamberts augenfälligen Charme und ihre offensichtliche Unschuld hingewiesen hatte, aber den Fall würde er damit nicht gewinnen, und das wussten sie beide. Seine Bemerkungen machten Melvilles Verhalten nur umso unbegreiflicher. Als Rathbone nun tief in Gedanken versunken und mit energischem Schritt den Fußweg entlangging, mied er sorgsam die Blicke der wenigen Berufskollegen, an denen er vorüber kam; er wollte den nächsten Hansom nehmen, den er finden konnte. Und die ganze Zeit über ließ ihn die Frage nicht los, was Melville über Zillah oder ihre Familie wissen konnte, das zu sagen er sich weigerte? Ebendieser Gedanke musste früher oder später auch all ihren Freunden und Feinden in der Gesellschaft kommen. Ganz gewiss würden ihn die Mütter ihrer Rivalinnen aussprechen. Und diese Frauen würden ganz sichergehen, dass ihre Spekulationen auch den Müttern passender junger Herren, den Erben von Titeln und Vermögen, zu Ohren kämen.
    Wenn jemand Zillah Lambert aus Liebe heiratete, dann konnte er, wie es schien, gar nichts Besseres tun, aber bei der Mehrheit der Männer, auf die ihre Mutter es abgesehen hatte , würde das nicht der Fall sein. Selbst wenn niemand es laut auszusprechen wagte, so waren die Geschworenen doch Männer von Welt und zweifellos selbst verheiratet, hatten vielleicht Söhne, die in Bälde auf Brautschau gehen würden. Wären sie bereit, ein Mädchen zu akzeptieren, das Anlass zu solchen Fragen gegeben hatte?
    Es begann zu regnen, und er musste laufen, um den Hansom zu erreichen, bevor zwei offenkundig ungeduldige Gentlemen ihm zuvorkommen konnten. Er hörte ihren verärgerten Protest, als er die Tür zuwarf und dem Kutscher seine Adresse nannte.
    Zwei Stunden später - nachdem er gegessen und fünfunddreißig Minuten mutlos in seinem Wohnzimmer auf und ab gegangen war - verließ er abermals das Haus, um mit einer anderen Droschke zu Melvilles Wohnung zu fahren.
    Er war bisher nur ein einziges Mal dort gewesen. Während ihrer Vorbereitung auf die Verhandlung war Melville zu ihm gekommen. Sein Quartier lag in einem hübschen georgianischen Stadthaus, das sich jedoch in keiner Weise von seinen Nachbarn zu beiden Seiten unterschied. Sobald er jedoch das Vestibül, die Halle und die Treppe zum zweiten Stockwerk, in dem Melvilles Räume lagen, hinter sich gelassen hatte, erwies sich der Bau als etwas durch und durch Besonderes. Sämtliche inneren Wände waren niedergerissen, und die neuen hatte man gerundet und in Farben getüncht, die auf einzigartige Weise den Eindruck von Geräumigkeit und Licht vermittelten. Sie waren eigens dazu geschaffen, eine optische Illusion von Distanz und zugleich Wärme zu erzeugen. Ein Raum schien mit dem nächsten zu verschmelzen. Elfenbein und Goldtöne und die Farbe von braunem Zucker fügten sich nahtlos in den Glanz von poliertem Holz. Ein leuchtend fuchsienrotes Kissen zog den Blick auf sich, der dann wiederum von einem grell türkisch rosafarbenen gefesselt wurde.
    Killian Melville saß mitten im Zimmer auf einem bestickten Kamelsattel. Er sah elend aus und blickte kaum auf, als Rathbone eintrat und das Dienstmädchen sich zurückzog.
    »Ich nehme an, Sie wollen den Fall abgeben«, sagte er düster.
    »Das kann ich Ihnen nicht verdenken, denn ich stehe da wie ein übler Schuft.«
    »Sie stehen nur da wie ein Schuft?«, fragte Rathbone sarkastisch.
    Melville blickte auf. Es lagen tiefe Schatten unter seinen Augen, und von der Nase zum Mund und um die Mundwinkel herum zogen sich feine Linien. Er war gut aussehend auf eine kultivierte, asketische Art, aber der herausragendste Eindruck, den sein Gesicht vermittelte, war nach wie vor seine Aufrichtigkeit. Er hatte etwas Direktes an sich, etwas, das Mut, ja sogar Tollkühnheit vermuten ließ.
    »Also, wollen Sie den Fall niederlegen?«, wiederholte er.
    »Nein, das will ich nicht!«, sagte Rathbone scharf. Was ihn antrieb, war eher Stolz als Vernunft und ganz gewiss nicht die Hoffnung, den Prozess zu gewinnen. »Ich werde den Fall zu Ende bringen, aber das Beste, was ich für Sie erreichen kann, ist eine Eingrenzung des Schadens. Mit dem, was ich von Ihnen weiß, kann ich Sacheverall nicht schlagen, - er hat alle Trümpfe in der Hand.«
    »Das ist mir klar«, pflichtete Melville ihm bei. »Ich erwarte auch keine Wunder.«
    »O doch, genau das tun Sie!« Rathbone setzte sich auf das Sofa,

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