Tödliche Therapie
Ich duschte lange, um mir den ganzen Schmutz des Tages
abzuwaschen. Ein nicht zu kleiner Schluck Black Label und ein Erdnußbutterbrot
trugen nicht unerheblich zu meiner Regeneration bei. Ich sah noch die Wiederholung
einer Kojak-Folge an und schlief dann den Schlaf der Gerechten.
Im Traum versuchte ich, die Herkunft eines
gequälten Weinens zu finden. Im alten Haus meiner Eltern stieg ich die Treppe
hinauf und fand meinen Ex-Mann, der laut schnarchte. Ich schüttelte ihn. „Um
Himmels willen, Richard, wach auf - mit deinem Schnarchen erweckst du ja die Toten
wieder zum Leben.“ Doch das Wimmern hörte nicht auf, und ich entdeckte, daß es
von einem Baby stammte, das auf dem Boden neben dem Bett lag. Ich versuchte
vergeblich, es zu beruhigen. Es war das Baby Victoria, das nicht aufhörte zu
weinen, weil es nicht atmen konnte.
Ich wachte schweißgebadet und mit wild schlagendem
Herzen auf. Das Geräusch war noch immer da. Nach einigen Sekunden der
Verwirrung wurde mir klar, daß jemand an der Haustür klingelte. Die
Leuchtziffern des Weckers zeigten auf halb sieben - ziemlich früh für Besucher.
Ich stolperte zum Haustelefon. „Wer ist da?“ fragte
ich mit belegter Stimme.
„Ich bin's, Lotty. Laß mich rein.“
Ich drückte auf den Türöffner, entriegelte die
Wohnungstür, ging zurück ins Schlafzimmer und suchte was zum Anziehen. Ein
Nachthemd hatte ich zum letztenmal gertragen, als ich fünfzehn war - nach dem
Tod meiner Mutter konnte mich niemand mehr zwingen, eines anzuziehen. In einem
Haufen schmutziger Wäsche fand ich ein Paar Shorts und ein T-Shirt, das ich mir
gerade über den Kopf zog, als Lotty hereinkam.
„Ich dachte schon, du würdest nie aufwachen,
Victoria. Ich wünschte, ich wäre so geschickt wie du im Türenknacken.“
Sie spaßte, aber ihre Gesichtszüge waren starr und
verkrampft.
„Consuelo ist tot“, sagte ich.
Sie nickte. „Ich komme gerade aus Schaumburg. Um
drei Uhr riefen sie an - ihr Blutdruck war wieder gesunken, und sie konnten
nichts dagegen tun. Ich fuhr hinaus, aber es war zu spät. Mrs. Alvarado
gegenübertreten zu müssen war furchtbar. Sie machte mir keine Vorwürfe, aber
ihr Schweigen war genauso schlimm.“
„Scheiß Opferrolle“, sagte ich unbedacht.
„Vic! Ihre Tochter ist tot, auf tragische Weise
gestorben.“
„Ich weiß - es tut mir leid, Lotty. Aber sie ist so
verdammt passiv und schafft es, daß sich alle anderen in ihrer Gegenwart
schuldig fühlen. Ich glaube wirklich, Consuelo wäre nicht schwanger geworden,
wenn sie nicht jeden Tag zu hören bekommen hätte: >Gott sei Dank, daß dein
Vater nicht mehr erleben muß, was du jetzt wieder machst.< Laß dich um
Himmels willen nicht auch da mit reinziehen. Sie ist nicht die erste arme Frau,
die ein Kind verloren hat.“
In Lottys Augen blitzte Ärger auf. „Carol Alvarado
ist mehr als eine Krankenschwester. Sie ist eine gute Freundin und eine
Assistentin von unschätzbarem Wert. Mrs. Alvarado ist ihre Mutter und nicht
irgendeine arme Frau.“
Ich rieb mir mit den Handflächen mein verschlafenes
Gesicht. „Wenn ich nicht so groggy und durcheinander wäre, hätte ich das nicht
so offen gesagt. Aber, Lotty, du kannst nichts dafür, daß Consuelo Diabetes
hatte, und du hast sie auch nicht geschwängert. Im Gegenteil, du hast dein
Bestes für sie getan. Du denkst jetzt vermutlich >Hätte ich nur das statt
jenem getan, wenn nur ich rausgefahren wäre statt Malcolm<. Aber es ist
nicht zu ändern. Du kannst die Welt nicht retten. Nur weil du viel weißt, bist
du nicht allmächtig. Trauere. Weine. Schreie. Aber mach mir hier keine Szene
wegen Mrs. Alvarado.“
Ihre schwarzen Brauen zogen sich über der breiten
Nase zusammen. Sie drehte sich um. Einen Augenblick lang dachte ich, sie
wollte aus der Wohnung stürzen, aber sie ging nur zum Fenster und stolperte
dabei über einen einzelnen Schuh. „Du solltest mal aufräumen, Vic.“
„Klar, aber wenn ich das täte, hätten meine Freunde
nichts mehr, worüber sie sich beschweren könnten.“
„Wir würden vielleicht etwas anderes finden.“ Sie
nickte ein paarmal, drehte sich um und kam mir mit ausgestreckten Händen
entgegen. „Es war richtig, zu dir zu kommen, Vic. Ich weine und schreie nicht,
das hab ich schon lange verlernt. Aber es wird mir guttun, ein bißchen zu
trauern.“
Ich ging mit ihr ins Wohnzimmer, und wir setzten
uns in einen großen Sessel. Ich nahm sie in den Arm und hielt sie lange Zeit
fest, bis sie gequält seufzte und sich
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