Tödliche Therapie
aufrichtete. „Kaffee, Vic?“
Sie folgte mir in die Küche; ich setzte Wasser auf
und mahlte Kaffee. „Malcolm hat mich gestern abend angerufen. Er hatte nur
wenig Zeit und konnte mir deswegen nur das wichtigste sagen. Bevor er eintraf,
haben sie ihr Ritodrine gegeben, um die Wehen und die Geburt um vierundzwanzig
Stunden hinauszuzögern - man pumpt Steroide in den Körper, damit die Lungen
des Babys Lipide entwickeln können. Aber es hat nicht funktioniert, und ihre
Blutwerte wurden schlechter, also beschlossen sie, das Baby zu holen und sich
voll auf ihre Diabetes zu konzentrieren. Die Entscheidung war richtig. Ich weiß
nicht, warum es nicht funktioniert hat.“
„Ich weiß, daß bei Risikogeburten eine Menge
möglich ist. Trotzdem muß es immer wieder Fälle wie diesen geben.“
„Natürlich. Ich bin nicht blind für die Grenzen
unserer medizinischen Fähigkeiten. Es könnten Narben zurückgeblieben sein von
der Operation, bei der wir vor zwei Jahren die Zyste entfernt haben. Ich habe
sie ständig überwacht für den Fall...“
Ihre Stimme verlor sich, und sie rieb sich müde das
Gesicht. „Ich habe keine Ahnung. Ich bin neugierig auf den Autopsiebericht und
auf Malcolms Unterlagen. Er hat auf der Rückfahrt seinen Bericht auf Band
gesprochen. Aber er will noch einige Dinge mit Burgoyne abklären, bevor er ihn
mir gibt.“ Sie lächelte flüchtig. „Nach dem Tag in Schaumburg hatte er die
Nacht über Bereitschaftsdienst im Beth Israel - wer möchte noch mal jung und
Assistenzarzt sein?“
Nachdem Lotty gegangen war, wanderte ich ziellos
durch die Wohnung, hob Kleidungsstücke und Zeitschriften auf, hatte zu nichts
Lust und wußte nicht recht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich bin Detektiv,
professioneller Privatdetektiv. Meine Aufgabe besteht darin, etwas
aufzudecken. Aber in diesem Fall konnte ich nichts unternehmen. Es gab nichts
herauszufinden. Ein sechzehnjähriges Mädchen war tot. Nichts weiter.
Der Tag zog sich hin. Die üblichen Telefonanrufe,
ein Bericht mußte fertiggestellt, ein paar Rechnungen bezahlt werden. Die
drückende Hitze hielt an und ließ jegliche Aktivität vergebens erscheinen.
Nachmittags stattete ich Mrs. Alvarado einen Kondolenzbesuch ab. Sie war völlig
aufgelöst, und ein Dutzend Freunde und Verwandte einschließlich der müden Carol
kümmerten sich um sie. Wegen der Autopsie war das Begräbnis für die nächste Woche
festgesetzt worden. Es sollte ein Doppelbegräbnis werden, für Consuelo und das
Baby, und versprach eine Veranstaltung zu werden, an der teilzunehmen, ich
nicht würde ertragen können.
Am nächsten Tag ging ich in Lottys Praxis, um ihr
zu helfen. Nachdem Carol ausfiel, hatte sie sich von einer Zeitarbeitsvermittlungsstelle
eine Krankenschwester kommen lassen, aber der Frau fehlte Carols
Geschicklichkeit, und selbstverständlich kannte sie die Patienten nicht. Ich
maß Fieber und machte Gewichtskontrollen. Trotz meiner Hilfe dauerte der
Arbeitstag bis nach sechs Uhr.
Zu Hause zog ich schnell einen Badeanzug und
abgeschnittene Jeans an und fuhr dann zum Montrose Avenue Park, nicht zum
offiziellen Strand, wo Bademeister pingelig darauf achteten, daß man nicht
weiter als bis Kniehöhe ins Wasser geht, sondern zu den Felsen, wo der See tief
und klar ist. Ich schwamm eine halbe Meile hinaus, drehte mich auf den Rücken
und beobachtete, wie hinter den Bäumen die Sonne unterging. Zurück in meiner
Wohnung duschte ich, fand noch eine halbe Flasche Taittingers, die zusammen mit
Obst und Pumpernickel ein Abendessen ergab. Um zehn Uhr schaltete ich den
Fernseher an, um Nachrichten zu sehen.
Mary Sherrods schwarzes, waches Gesicht füllte den
ganzen Bildschirm. Sie blickte ernst drein. Die Hauptnachricht mußte wohl eine
Hiobsbotschaft sein. Ich schenkte mir die letzten Tropfen Wein ein.
„Die Polizei gab bekannt, daß es bislang noch keine
konkreten Täterhinweise im Zusammenhang mit dem brutalen Mord an dem Chicagoer
Arzt Malcolm Tregiere gibt.“
Erst als ein Foto von Malcolms schmalem, schönem
Gesicht eingeblendet wurde und Mary Sherrod schon ein paar Sätze weiter war,
begriff ich, was geschehen war. Ein Foto von Malcolms Wohnung. Ich war einmal
dort gewesen. Seine Familie stammte aus Haiti, und er hatte seine Wohnung mit
Kunstgegenständen aus seiner Heimat eingerichtet. Das Zimmer, das auf dem
Bildschirm zu sehen war, sah aus wie nach einem Bombenangriff. Die wenigen
Einrichtungsgegenstände waren zertrümmert, Masken und Bilder von den
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