Toedliche Traeume
Minuten, um die Kabel zu entfernen. Das kleine Mädchen hatte dunkle Haare wie die Mutter und seidige, olivfarbene Haut. Sophie schmolz dahin, als sie die Kleine betrachtete. »Wach auf, Elspeth«, flüsterte sie. »Es ist alles gut. Ich lese dir eine Geschichte vor, während wir zusammen auf deine Mom warten …«
Am besten mache ich mich wieder an die Arbeit, dachte Kathy, als sie den beiden durch die Glasscheibe zuschaute. Sophie hatte das Kind aus dem Bettchen genommen, in eine Decke gewickelt und sich mit ihm auf dem Schoß in einen Schaukelstuhl gesetzt. Sie wiegte Elspeth sanft und sprach liebevoll mit ihr.
Kathy hatte schon oft gehört, wie andere Ärzte sich voller Bewunderung über Sophie geäußert hatten. Sie war Doktor der Medizin und der Chemie und eine der besten Schlaftherapeutinnen des Landes. Aber die Sophie, die sie vor sich sah, mochte Kathy am liebsten. Die Frau, die ihren Patienten mit so viel Warmherzigkeit und Fürsorge behandelte. Selbst ihr missratener Sohn hatte auf diese Warmherzigkeit reagiert, als er Sophie einmal begegnet war. Und Don war weiß Gott nicht leicht zu beeindrucken. Dass Sophie blond, groß und schlank war und eine gewisse Ähnlichkeit mit Kate Hudson hatte, trug sicherlich nicht unerheblich dazu bei, dass Kathys Sohn sie bewunderte. Wenn es nicht gerade um Madonna ging, stand Don nicht besonders auf mütterliche Frauen.
Aber Sophie ähnelte weder Madonna noch der Jungfrau Maria. So wie sie da saß, das Kind auf ihrem Schoß, wirkte sie sehr menschlich und liebevoll.
Und stark. Aber um die Höllenqualen durchzustehen, die Sophie in den letzten Jahren gelitten hatte, brauchte man sehr viel Kraft. Sie hätte eine Auszeit verdient. Kathy wünschte, Sophie würde den spitzenmäßig bezahlten Job annehmen, den Kennett ihr angeboten hatte, und auf die ganze Verantwortung pfeifen.
Dann, als sie Sophies Gesichtsausdruck betrachtete, schüttelte sie den Kopf. Sophie würde sich nie vor der Verantwortung drücken, nicht diesem Kind gegenüber und auch nicht Michael gegenüber. Das entspräche nicht ihrem Charakter.
Ach, vielleicht hatte Sophie ja recht. Vielleicht war das Geld längst nicht so wichtig wie die Belohnung, die das Baby ihr bescherte.
»Bye, Kathy.« Sophie hob eine Hand zum Gruß, als sie zum Aufzug ging. »Bis später.«
»Besser nicht – ich hab den ganzen Monat Nachtschicht. Haben Sie irgendwelche Erklärungen für das häufigere Auftreten der Apnoe gefunden?«
»Ich werde ihr ein anderes Medikament verabreichen. Bei Kindern in Elspeths Alter kann man eigentlich nur rumprobieren.« Sie trat in den Aufzug, als die Türen sich öffneten. »Wir müssen sie einfach unter Beobachtung halten und hoffen, dass sich das Problem mit zunehmendem Alter von alleine löst.«
Sie lehnte sich gegen die Wand des Aufzugs und schloss die Augen. Gott, war sie müde. Sie würde nach Hause fahren und nicht mehr über Sanborne nachdenken.
Nein, sie war kein Feigling. Sie würde nicht auf direktem Weg nach Hause fahren.
Wenige Minuten später schloss sie ihren Van auf, wobei sie es vermied, zu dem Futteral mit der Springfield-Schrotflinte hinüberzusehen, das auf dem Rücksitz des Toyota lag. Sie hatte sich bereits vergewissert, dass die Schrotflinte in Ordnung war. Nicht, dass das nötig gewesen wäre. Jock kümmerte sich um die Schusswaffen, und er würde sie niemals mit einer Waffe losfahren lassen, mit der etwas nicht stimmte. Dafür war er zu sehr Profi.
Sophie wünschte sich, sie könnte dasselbe auch von sich behaupten. Die ganze Nacht hatte sie jeden Gedanken an Sanborne verdrängt, aber jetzt zitterte sie am ganzen Leib. Sie legte den Kopf auf das Steuerrad und verharrte so einige Minuten lang. Sie musste sich zusammenreißen. Es war ganz normal, dass sie sich so fühlte. Jemandem das Leben zu nehmen war etwas Schreckliches. Selbst wenn es sich um Ungeziefer wie Sanborne handelte.
Sie holte tief Luft, hob den Kopf und ließ den Motor an.
Sanborne würde um 7:00 Uhr in der Fabrik eintreffen.
Dann musste sie dort sein und ihn erwarten.
Renn!
Hinter ihr schrie jemand.
Sie schlitterte den Abhang hinab, stürzte, rappelte sich wieder auf und hastete die Böschung zum Flussufer hinunter.
Eine Kugel pfiff an ihrem Kopf vorbei.
»Stehen bleiben!«
Renn. Renn einfach immer weiter.
Im Unterholz oben am Hang hörte sie lautes Krachen.
Wie viele waren hinter ihr her?
Sie duckte sich hinter ein paar Sträucher. Der Van war etwa zweihundert Meter entfernt an
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