Tödliche Unschuld
hatte sie längst entdeckt.
Wenigstens das hatte ihr Vater ihr erspart. Schließlich hatte er den Wert der Ware nicht verringern wollen, und so wies ihr Körper weder Brandspuren noch andere Narben auf.
»Als du mich gesehen hast, hast du dein rechtes Bein etwas zurückgezogen und den Knöchel leicht rotieren lassen, um zu prüfen, ob das Messer richtig sitzt. Wenn man dich für das Tragen einer Waffe drankriegt, landest du garantiert im Heim. Bist du schon mal im Heim gewesen?« So, wie er mit der Schulter zuckte, wusste sie bestimmt, dass ihm das bisher erspart geblieben war. »Ich schon. Was auch immer sie dir hier aufgebrummt haben, ist auf jeden Fall besser als das. Wenn du dich die nächsten Jahre halbwegs anständig benimmst, werden sie dich schließlich aus ihren Fängen lassen und du kannst dein Leben leben, wie du willst. Wenn du aber in deinem Alter eingewiesen wirst, führen sie über dich Buch, bis du einundzwanzig wirst.«
Da sie nicht die Absicht hatte, ihm noch weitere Ratschläge zu erteilen, stand sie auf und lief auf der Suche nach einem Kaffeeautomaten den Flur ein Stück hinab.
Als sie ihren scheußlichen Kaffee endlich hatte, erklärte ihr die junge Dame am Empfang, Miss Price hätte bis zu ihrer nächsten Sitzung fünf Minuten Zeit.
Es war ein winziges Büro, aber auch hier drinnen hatte irgendwer versucht, die Atmosphäre etwas aufzuhellen, denn zwei der Wände waren mit gerahmten Kinderzeichnungen bedeckt. Aktenordner lagen in ordentlichen Stapeln auf dem Schreibtisch, auf dem eine kleine Vase mit frischen Tausendschönchen stand, und Clarissa selbst sah so kompetent und proper wie auf dem Eve bekannten Foto aus.
»Tut mir leid, dass ich Sie warten lassen musste«, fing sie freundlich an. »Ich fürchte, Lauren hat Ihren Namen nicht verstanden.«
»Dallas, Lieutenant Dallas.«
»Wir hatten arbeitsmäßig bisher noch nichts miteinander zu tun.«
»Nein, ich bin von der Mordkommission.«
»Mordkommission, verstehe. Worum geht’s? Doch nicht um eins von meinen Kindern?«
»Nicht direkt. Sie haben mit ein paar Minderjährigen gearbeitet, die mit einem kleinen Dealer, Louis K. Cogburn, und einem angeblichen Päderasten, Chadwick Fitzhugh, in Kontakt gekommen waren.«
»Ich habe mit Minderjährigen gearbeitet, die von diesen beiden Individuen schamlos ausgebeutet worden sind.«
»In ein paar Ihrer Akten kommen noch andere bekannte oder angebliche Kinderschänder vor. Derzeit allerdings interessieren wir uns ausschließlich für Cogburn und für Fitzhugh.«
»Die beide nicht mehr leben«, stellte Clarissa tonlos fest. »Ich habe heute Morgen den Bericht im Fernsehen gesehen. Eine Art neuer Bürgerwehr übernimmt angeblich die Verantwortung dafür.«
»Eine terroristische Vereinigung«, korrigierte Eve. »Die gleichzeitig für den Tod einer unbeteiligten Zivilperson und eines Polizeibeamten verantwortlich ist. Sehen Sie oft fern?
Tut mir leid.« Eve lächelte leicht. »Ich hatte eben eine private Auseinandersetzung mit meiner Assistentin über die Vorzüge und Nachteile von Medienberichten und darüber, ob man es für sinnvoll hält, möglichst regelmäßig Nachrichten zu sehen.«
»Bei mir läuft beinahe jeden Morgen Channel 75, und auch abends sehe ich mir wenigstens die Kurznachrichten an.« Sie erwiderte Eves Lächeln. »Und, auf wessen Seite stehe ich?«
»Auf ihrer.« Eve wies mit dem Kopf auf Peabody. »Gut, aber zurück zu meinem eigentlichen Thema. Ich leite die Ermittlungen in diesen Todesfällen und habe überlegt, ob es eventuell Verbindungen zwischen Mitgliedern der Gruppe, die sich die Reinheitssucher nennt, und irgendwelchen minderjährigen Opfern von Cogburn und/oder Fitzhugh sowie anderen Kinderschändern, die vielleicht ebenfalls auf ihrer Abschussliste stehen, gibt. Da die Akten dieser Minderjährigen versiegelt sind und auf deren Bitte auch nach Erlangung der Volljährigkeit weiter versiegelt bleiben, brauche ich Ihre Hilfe.«
»Ich kann nicht das Vertrauen dieser Kinder und ihrer Familien missbrauchen, um Ihnen bei Ihren Ermittlungen zu helfen.« Sie hob ihre hübschen, unberingten Hände in die Luft. »Schließlich gibt es diese Siegel aus einem guten Grund. Diese Kinder wurden schwer geschädigt. Selbst wenn ich durchaus verstehe, dass Sie Ihre Arbeit machen müssen, muss ich die meine tun. Und meine Arbeit ist es, diese Kinder zu beschützen und alles in meiner Macht Stehende zu tun, um ihnen zu helfen, die erlittenen Traumata zu überwinden.«
»Siegel
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