Tödliche Versuchung
Reaktion. Er steckte den Brief sorgfältig zurück in den Umschlag und legte diesen auf die Küchenablage.
Er blickte aus dem Küchenfenster, scheinbar in Gedanken versunken, ging zur Terrassentür, schob sie beiseite und sah hinüber zu dem Baum. Ich erstarrte vor Schreck, wagte nicht zu atmen. Er kann mich gar nicht sehen, dachte ich. Dazu ist es in dem Baum zu dunkel. Wenn du dich nicht bewegst, wird er zurück ins Haus gehen. Daneben getippt. Eine Hand schnellte seitlich empor, eine Taschenlampe flammte auf, und Ramos hatte mich erwischt.
»Mieze, Mieze komm«, sagte ich und schirmte mit der Hand meine Augen gegen das Licht ab.
Hannibal hob einen Arm, in seiner Hand lag eine Pistole.
»Kommen Sie da runter«, sagte er, auf mich zugehend. »Langsam.«
Du hast sie wohl nicht alle! Ich flog geradezu von dem Baum runter, knickte unterwegs Äste ab und landete, schon im Laufschritt, auf der Erde.
Ff/t. Das untrügliche Geräusch einer Kugel, die durch einen Schalldämpfer abgeschossen wird.
Eigentlich halte ich mich nicht für eine Sportskanone, aber ich rannte mit Lichtgeschwindigkeit die Straße entlang. Ich lief schnurstracks zu meinem Wagen, sprang hinein und brauste davon.
Ich schaute mehrmals in den Rückspiegel, um mich zu vergewissern, dass mir niemand folgte. Schon in der Nähe meiner Wohnung angelangt, fuhr ich erst noch in die Makefield, bog an der Kreuzung ab, schaltete das Licht aus und wartete. Kein Auto in Sicht. Ich schaltete das Licht wieder ein, und mir fiel auf, dass meine Hände aufgehört hatten zu zittern. Ein gutes Zeichen, entschied ich, und fuhr endgültig nach Hause.
Auf dem Parkplatz streifte mein Scheinwerferlicht einen Mann. Es war Morelli. Er lehnte lässig gegen seinen 4X4, Arme vor der Brust verschränkt, Beine übereinander geschlagen. Ich schloss den Buick ab und ging zu ihm. Seine Miene gelangweilter Selbstzufriedenheit ging über in unverhohlene Neugier.
»Bist du jetzt wieder auf den Buick umgestiegen?«, fragte er.
»Vorübergehend.«
Er musterte mich von Kopf bis Fuß und zupfte eine Tannennadel aus meinem Haar. »Ich will lieber gar nicht weiterfragen.«
»Das kommt von einer Beschattung.«
»Du bist ganz klebrig überall.«
»Das ist Harz. Ich bin auf einen Tannenbaum geklettert.«
Er grinste. »Ich habe gehört, die Knopffabrik sucht wieder Leute.«
»Was weißt du über Hannibal Ramos?«
»Jetzt sag bloß nicht, dass du Ramos beschattest. Der Mann ist gemeingefährlich.«
»Dabei sieht er gar nicht so gefährlich aus. Eigentlich sieht er ganz normal aus.« Bis er die Pistole auf mich gerichtet hatte.
»Unterschätz ihn nicht. Er leitet das Ramos-Imperium.«
»Ich dachte, sein Vater wäre der Boss.«
»Alexander hat immer noch die Macht, aber Hannibal erledigt die Tagesgeschäfte. Es geht das Gerücht, der alte Herr sei krank. Er war immer schon anfällig, aber ich habe aus sicherer Quelle erfahren, dass Alexander immer unberechenbarer sein soll. Die Familie hat einen Babysitter engagiert, damit er nicht eines Tages einfach auf Nimmer-Wiedersehen verschwindet.«
»Alzheimer?«
Morellis zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«
Ich sah an mir herab, mein Knie war aufgeschürft und blutete.
»Wenn man für Ranger arbeitet, kann man schnell zum Komplizen in einer ziemlich hässlichen Sache werden.«
»Wer? Ich?«
»Hast du ihm ausgerichtet, dass er Kontakt mit mir aufnehmen soll?«
»Dazu hatte ich gar keine Gelegenheit. Aber wenn du Nachrichten auf seinem Pager hinterlässt, dann kriegt er sie auch. Er will bloß nicht antworten.«
Morelli zog mich an sich. »Du riechst wie ein ganzer Tannenwald.«
»Das kommt von dem Harz.«
Er legte seine Hände um meine Taille und küsste mich aufs Schlüsselbein. »Sehr sexy.«
Morelli fand alles sexy.
»Willst du nicht zu mir nach Hause kommen«, sagte er. »Ich küsse dir dein kaputtes Knie gesund.«
Verlockend. »Und Grandma?«
»Das merkt die gar nicht. Die liegt wahrscheinlich längst im Tiefschlaf.«
Ein Fenster im ersten Stock wurde geöffnet. Meine Wohnung. Grandma steckte den Kopf durch. »Bist du das, Stephanie? Wer ist bei dir? Sind Sie das, Joe Morelli?«
Joe winkte ihr zu. »Hallo, Mrs. Mazur.«
»Wozu steht ihr beide unten rum?«, wollte Grandma wissen. »Kommt doch rein und probiert von dem Nachtisch. Wir sind auf dem Weg von der Aufbahrung nach Hause noch im Supermarkt vorbeigegangen und haben Käsesahnetorte gekauft.«
»Danke«, sagte Joe, »aber ich muss nach Hause. Ich habe
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