Toedliche Worte
Bradfield Moor. Wie so viele Dinge in der Anstalt war auch die Lampe nie von besonders guter Qualität gewesen und hatte jetzt ihre besten Tage hinter sich. Die einzigen zwei Positionen, auf die man sie noch über längere Zeit einstellen konnte, waren entweder zu niedrig oder zu hoch, um sie richtig gebrauchen zu können. Aber seine Umgebung war Tony in diesem Moment völlig gleichgültig.
Der Mörder entzog sich ihm noch immer. Eine geisterhafte Stimme, die er nicht hören konnte, die aber trotzdem in der Lage zu sein schien, ihn zu lenken. Er hatte jetzt keine genauere Vorstellung davon, wer der Mörder war, als an dem Morgen nach Sandie Fosters Ermordung, als er mit Carol über Vergewaltigung, Mord und Macht gesprochen hatte.
Er hatte wieder versucht, mit Derek Tyler zu reden, aber der hatte sich geweigert, sein Zimmer zu verlassen. Als Tony versucht hatte, ihn dort zu besuchen, hatte sich Tyler auf seinem Bett zusammengerollt und das Gesicht zur Wand gedreht. Und diese Geste war nun wirklich eindeutig. Also war er in sein Büro zurückgegangen und hatte Tylers Akte durchgelesen, die Carol ihm endlich herübergeschickt hatte. Sie hatte recht. Es gab keinen Spielraum, was Derek Tylers Verurteilung betraf. Es sei denn, er hätte einen Zwillingsbruder mit der gleichen DNA. Und es gab keinen Hinweis in den Akten, dass Tyler Geschwister hatte, und schon gar keinen Zwillingsbruder.
»Was bringt es dir?«, sagte er, lehnte sich zurück und starrte an die Decke. »Was ist der springende Punkt, der dich dazu bringt, das Verbrechen eines anderen Menschen auf dich zu nehmen?« Er war schon so weit, dass er anfing, etwas in Zweifel zu ziehen, das er immer als eine der wenigen felsenfesten Wahrheiten seines Berufs betrachtet hatte: dass auf dem Gebiet der Sexualmorde keine zwei Menschen auf einen Anreiz genau gleich reagierten. Und wenn dieser Fall die Ausnahme wäre, die die Regel bestätigte?
Er hatte einmal an einer Konferenz von Gerichtsmedizinern teilgenommen, bei der ein bekannter Autor nach dem Mittagessen eine Rede hielt. Er erinnerte sich, dass der Mann sich lässig auf das Pult stützte und sein weicher walisischer Akzent alles, was er sagte, beruhigend und harmlos klingen ließ. Tony hatte nicht Carols Talent für die absolut präzise Wiedergabe von Gesprächen, aber trotzdem erinnerte er sich an die Hauptgedanken, weil er seine eigenen Ideen darin widergespiegelt fand. Der Autor sprach über eine Frage, die ihm oft von Lesern gestellt wurde: Ob er sich nicht sorge, dass jemand seine fiktiven Verbrechen stehlen und sie in wirkliche Taten umsetzen könnte? Der Autor sagte, er lasse sich deswegen aus zweierlei Gründen keine grauen Haare wachsen. Erstens seien die Chancen, dass ein Individuum genau die gleichen Motive für seine Tat haben könnte wie die Figuren in seinen Büchern, verschwindend gering. Und selbst wenn dieser unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, sei trotzdem nicht der Autor verantwortlich. Der Mensch, der das Verbrechen begehe, müsse eine Neigung haben, die in diese Richtung gehe. Dem Autor die Schuld am Verbrechen des Mörders zu geben, wäre so, als gebe man dem Brotmesser die Schuld daran, dass eine Frau bei einem häuslichen Streit erstochen wurde.
Aber wenn beide unrecht gehabt hätten, der Autor und Tony? Wenn die Übereinstimmung mörderischer Vorstellungen nicht so unwahrscheinlich war, wie er und seine Kollegen immer gedacht hatten? Wenn es da draußen jemanden gäbe, der von Derek Tylers Verbrechen so beeindruckt war, dass er glaubte, er habe nur eine einzige Möglichkeit, seinen eigenen Traum der Vollkommenheit wahr zu machen, indem er das ausführte, was er gleichermaßen als seine eigene Wunschvorstellung erkannt hatte?
Es war weit hergeholt. Es würde ihn bei seinen Kollegen lächerlich machen. Er sah bereits das Grinsen auf Aidan Harts Gesicht bei der Gewissheit, dass Tony Hill endlich völlig durchgedreht sei.
Und außerdem war es einfach nicht logisch. Die vollständigen Fakten von Tylers Verbrechen waren nie öffentlich vor Gericht gehört worden, weil Tyler ein Geständnis abgelegt hatte, weil man die forensischen Beweise für unwiderlegbar hielt und weil man ihn für verrückt, aber nicht bösartig gehalten hatte. Manche Details dieser Verbrechen waren nicht allgemein zugänglich, sondern nur Tyler, die Polizei, die Anwälte beider Seiten und diejenigen, die wie Tony selbst mit der psychiatrischen Verwahrung Tylers betraut waren, kannten sie. Obwohl es nicht unmöglich
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