Toedliche Wut
hält inne. Seine Ungeduld ist spürbar – er will loslegen, und ich halte ihn auf. Die ersten achtundvierzig Stunden sind die wichtigsten bei der Aufklärung eines Falles. Das trifft umso mehr zu, wenn es um vermisste Personen geht, wobei wir in zwei Fällen schon über der Zeit liegen. Aber bei diesem jetzt sind die Erfolgsaussichten gut.
»Es sind schon alle hier versammelt«, sagt er. »Wir warten mit dem Briefing auf dich, du unterscheibst ein paar Formulare für die Personalabteilung, und dann geht’s los.«
»Ich bin in zehn Minuten da.«
»Ich hole dich an der Tür ab.«
Kurz nach zwölf Uhr biege ich auf den Highlander Parkway ab. Ich bin zwar nicht nervös, werde aber zunehmend ruhelos, je näher ich der BCI-Niederlassung komme. Ich weiß genauso gut wie Tomasetti, dass die Uhr tickt, und will mit den Eltern des verschwundenen Mädchens sprechen. Ich will das Mädchen finden, bevor wirklich etwas Schlimmes passiert – wenn es nicht schon passiert ist.
Ich rufe mir ins Gedächtnis, dass ich nur eine Beraterfunktion habe, und frage mich natürlich, wie die aussehen soll. Als Polizeichefin von Painters Mill bin ich es gewöhnt, alles selbst in die Hand zu nehmen. Ob es mir schwerfällt, von der zweiten Reihe aus zu agieren?
Und dann ist da auch noch meine Beziehung mit Tomasetti. Gemeinsam an einem Fall zu arbeiten und privat involviert zu sein heißt, einen gewagten Spagat zu vollführen. Niemand weiß von unserer Beziehung, und es ist sicher klug, es dabei zu belassen. Zudem bin ich überzeugt, dass wir unsere persönlichen Gefühle aus den Ermittlungen heraushalten können, gebe allerdings zu, dass ich mich auf die gemeinsame Zeit freue.
Ich stelle meinen Wagen auf den Besucherparkplatz, nehme meine Reisetasche und steuere die gläsernen Doppeltüren des Gebäudes an. Am Empfang sitzt eine uniformierte Frau hinter einem glänzenden Nussbaumschreibtisch. Als sie mich kommen sieht, steht sie auf.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Sie ist Afroamerikanerin, schlank, und trägt ein marineblaues Jackett. Auf dem Namensschild steht Gabrielle, und an ihrem Gürtel ist eine verchromte Polizeimarke befestigt. »Mein Name ist Kate Burkholder. Ich habe einen Termin mit John Tomasetti.«
»Er hat schon zweimal angerufen, einen Moment bitte.« Sie wählt gerade seine Nummer, als ich meinen Namen höre und mich umdrehe. Tomasetti kommt mit langen Schritten auf mich zu, und ich freue mich beim Anblick seiner hochgewachsenen Gestalt. Er ist wie immer sehr gut gekleidet: blaues Hemd, graugestreifte, weinrote Krawatte und anthrazitfarbene Hose.
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Agent Tomasetti.«
Sein Gesicht entspannt sich. »Chief Burkholder.« Er sieht die Frau hinter dem Schreibtisch an. »Danke, Gabby.«
Noch bevor sie ihm lächelnd zuwinkt, sehe ich in ihren Augen, dass ich nicht die Einzige bin, der dieser dunkle, grüblerische und leicht zwielichtige Mann gefällt.
»Wie war die Fahrt?«, fragt er und reicht mir die Hand.
»Ereignislos.«
»Mehr kann man sich vermutlich kaum wünschen.« Wir schütteln die Hände, und ich nehme mehrere Dinge auf einmal wahr: Seine Hand ist warm und trocken, sein Händedruck fest. Er mustert mich ein bisschen zu genau und auch eine Idee zu eindringlich, was ich aber beides mag. »Gut siehst du aus«, sagt er leise.
»Du aber auch.«
Die Fältchen in seinen Augenwinkeln verraten sein Amüsement. Er hält meine Hand etwas zu lange und zeigt dann zu den Aufzügen. »Legen wir gleich los.«
Auf dem Weg zum Fahrstuhl will er mir meine Reisetasche abnehmen, besinnt sich aber im letzten Moment eines Besseren. Niemand soll auf falsche Gedanken kommen, was unsere Beziehung betrifft, schon gar nicht seine Vorgesetzten. Also hänge ich mir die Tasche über die Schulter und tue so, als hätte ich es nicht bemerkt.
Wir stehen schweigend vor dem Aufzug und warten. Als er kommt, gehen wir hinein, Tomasetti drückt den Knopf für den zweiten Stock, und die Türen gleiten leise zu. Abgesehen von der Musikberieselung aus den Deckenlautsprechern – die Verstümmelung eines alten Sting-Songs –, sind wir allein. Obwohl Tomasettis Körperlichkeit schwer zu ignorieren ist, sind meine Gedanken schon bei dem Treffen mit seinen Vorgesetzten: Ich will einen guten Eindruck machen und zur Lösung des Falls beitragen. Doch kaum setzt der Aufzug sich in Bewegung, legt Tomasetti mir die Hände auf die Schultern, drückt mich an die Wand und küsst mich. Ich bin so geschockt, dass
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