Tödlicher Ausweg: Thriller (German Edition)
und sagte leise: »Nein, ich … na ja, keine Ahnung. Ich denke, ich dachte, er ist betrunken oder high oder so.« Das allgemeine Gemurmel und Geraschel waren plötzlich abgerissen, und die letzten Worte platzten in ein Vakuum der Stille hinein. Der Surfer wurde rot, ließ den Blick wieder durch den Gerichtssaal schweifen, wo sich jetzt alle Augen auf ihn richteten, und fügte dann hinzu: »Sonst hat ja auch niemand groß Aufhebens darum gemacht. Ich meine, niemand hat die Polizei … zumindest eine ganze Weile nicht.«
In jedem Gesicht im Gerichtssaal – außer in dem des Staatsanwalts, der die Antwort vorhergesehen hatte – spiegelte sich die Abscheulichkeit dessen, was diese Worte heraufbeschworen: Menschen, die kaltblütig über einen Mann hinwegstiegen, der sterbend auf dem Bürgersteig lag. Ich musste sofort an Cletus denken, meinen obdachlosen Kumpel, der mittwochabends sein Lager südlich vom Gerichtsgebäude aufschlug. In den letzten Jahren hatte ich ihm fast jede Woche vom Oolong Café, einem China-Imbiss, etwas zu essen mitgebracht. Ich stellte mir vor, wie Cletus langsam auf dem kalten Asphalt verblutete, während die Menschen einen Bogen um ihn machten, als wäre er eine umgekippte Mülltonne. Wer in diesem Fall das Opfer war, wusste ich nicht, aber das war auch egal. Niemand sollte auf diese Weise sterben müssen.
»Einspruch, irrelevant«, sagte der Verteidiger gelangweilt. Es war Walter Schoenfeld, ein erfahrener Strafverteidiger. »Keine weiteren Fragen«, fügte er dann hinzu.
»Stattgegeben«, sagte der Richter in einem ebenso gelangweilten Tonfall.
Es war bloß eine Voruntersuchung, daher gab es keine Jury, und die Anklage musste nur einen hinreichenden Tatverdacht begründen und keinen Tatbeweis jenseits eines vernünftigen Zweifels. Einwände hatten also, selbst wenn sie juristisch einwandfrei waren, keine große Bedeutung. Der Richter konnte die Spreu vom Weizen trennen.
»Sie haben also gesehen, wie der Mann zu Boden fiel und dort liegen blieb. Was ist dann passiert?«
»Irgendwann sah ich, wie die Polizei eintraf. Ein Polizist kam in den Laden und fragte, ob wir was gesehen hätten …«
»Einspruch zu allem, was die Polizisten gesagt haben«, ging Walter dazwischen. »Hörensagen.«
»Einspruch abgelehnt. ›Haben Sie etwas gesehen?‹ ist eine Frage, und Fragen haben mit Hörensagen nichts zu tun.«
»Soll ich nun weiterreden?«, fragte der Zeuge.
»Ja.« Der Richter seufzte. ›Einspruch abgelehnt‹ heißt in diesem Fall, dass Sie sich nichts vorzuwerfen haben.«
Der Zeuge fuhr fort. »Keshia, äh, die andere Person, die an dem Tag hinter der Ladentheke stand, hat den Polizisten dann erzählt, dass sie gesehen hat, wie ich vorher bei dem obdachlosen Typen stand und … äh …«
Erschrocken über die Reaktion auf seinen Bericht, wie er den sterbenden Mann sich selbst überlassen hatte, geriet der Zeuge ins Stocken.
»Und dann haben Sie der Polizei erzählt, was Sie uns vorhin erzählt haben?«
Der Zeuge nickte.
»Sie müssen laut antworten«, klärte der Staatsanwalt ihn auf, und es war nicht zu übersehen, dass er innerlich stöhnte.
»Ja. Ja, das habe ich.«
»Können Sie den Mann, der den obdachlosen Typen erstochen hat, im Gerichtssaal sehen?«, fragte der Staatsanwalt.
»Einen Moment mal, bitte.« Der Richter bedeutete dem Zeugen, nicht zu antworten, und wandte sich an den Staatsanwalt. »Den ›obdachlosen Typen‹? Der Mann hat doch vermutlich einen Namen, und der lautet sicher nicht ›obdachloser Typ‹. Hat man ihn denn nicht identifizieren können?«
»Nein, Euer Ehren. Die Verteidigung hat sich geweigert, auf einen schnellen Prozess zu verzichten, und bislang ist er in keiner Datenbank aufgetaucht.«
Nicht nur, dass er mitten in der Stadt auf einem Bürgersteig gestorben war, wir konnten seinen Tod nicht einmal mit einem Namen versehen. Die unendliche Einsamkeit hinter einem solchen Schicksal lastete schwer auf mir.
Der Richter warf dem Staatsanwalt einen missbilligenden Blick zu. »Dann, Herr Staatsanwalt, scheint mir das angemessene Wort doch eher ›Opfer‹ zu sein. Oder ›John Doe‹, wie wir sonst zu sagen pflegen, wenn wir keinen Namen haben. ›Obdachloser Typ‹ geht jedenfalls nicht.« Er wandte sich an den Zeugen. »Befindet sich die Person, die das Opfer erstochen hat, hier im Gerichtssaal?«
»Äh, nun …« Der Surfertyp schaute sich nervös um.
Der Staatsanwalt seufzte ungeduldig. Die Sache wurmte mich jetzt – ich wusste, dass ich den
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