Toedliches Erbe
wußten genau, woher die Babys kamen, auch schon als sie noch so klein waren, daß sie alles andere eher interessiert hat. Das Leben ist seltsam, nicht wahr?«
»Sehr seltsam«, sagte Kate, »und es ist wirklich außerordentlich nett, daß Sie mit mir sprechen. Haben Sie den Eindruck, daß Oxford sich von einem Besuch zum anderen sehr verändert?«
»O ja, Oxford verändert sich. Das ist auch etwas, worin Max und ich verschieden sind. Max mag keine Veränderungen, während ich zumindest zugebe, daß sie unvermeidlich sind, wenn sie auch nicht immer in der Form stattfinden, die wir gern hätten. Aber eines muß ich sagen: Sie im großen Speisesaal wären mir höchst willkommen.
Ich hoffe, das eines Tages zu erleben.«
Sie standen auf und schlenderten, zum Eingangstor zurück.
»Bleiben Sie lange in England?« fragte Kate.
»Leider muß ich zurück nach Chicago, wo es jetzt schrecklich heiß ist. Aber ich hoffe sehr, daß wir uns wiedersehen, Miss Fansler.
Sie haben mich dazu gebracht, an meine längst vergangene Jugend zurückzudenken, und das ist mir seit Ewigkeiten nicht mehr passiert.«
»Sie sind wirklich zu freundlich, mir eine impertinente Frage nach der anderen zu beantworten. Glauben Sie, ihre Mutter hätte gern wissenschaftlich gearbeitet?«
»Um Himmels willen, nein. Sie ist zweisprachig aufgewachsen und hat ihr Examen in Französisch gemacht. Sie hat wie wild alles gelesen, was ihr unter die Finger kam, und alle Ideen aufgesogen, ohne sie in ein System zu bringen. Sie war keine Wissenschaftlerin wie die beiden anderen. Die hätten mit Forschungsstipendien in Oxford bleiben können, wenn sie sich nicht für London entschieden hätten, um von der Luft zu leben, zu schreiben und für den Völkerbund zu arbeiten. Für Mutter war dieser Entschluß ein Glück, denn sonst hätte sie sie früher verloren. Gute Nacht, Miss Fansler. Oder besser: Au revoir.«
Kate sagte gute Nacht und wanderte tief in Gedanken nach Hause.
Am nächsten Morgen war sie so früh im Somerville, daß sie eine Zeitlang unter den Buchen auf und ab gehen mußte, bis die Bibliothek aufmachte. Sie war entschlossen, in den Papieren, vor allem in 121
den Briefen, den Beweis zu suchen, von dessen Existenz sie jetzt überzeugt war. Es war nicht nur eheliche Zuneigung, die sie an Reed denken ließ. Sie hörte schon seine Warnung vor voreiligen Schlüssen. Aber sie zog gar keine voreiligen Schlüsse. Sie näherte sich nur ganz gezielt einer Schlußfolgerung, so, wie ein Hund sich vorsichtig an ein Murmeltier heranpirscht. »Keine Theorien, die den Fakten vorauseilen, Kate. Sagt man nicht so in der Literatur?« Sie hörte seine Stimme, als stünde er neben ihr. »Bestimmt nicht«, antwortete sie und verblüffte die Bibliothekarin, die gerade angerannt kam und etwas von einem steckengebliebenen Bus und einem impertinenten Busfahrer erzählte. Die Bibliothekarin wohnte im Norden Oxfords.
Kate zog sich mit den Papieren in eine Nische zurück und schaute vor allem die aus der Kriegszeit gründlich durch. Es hatte tatsächlich eine männliche Einheit im Nachrichtenkorps in Frankreich gegeben. In den Briefen, die die Whitmore nach Hause schrieb, war die Rede von Ausritten mit einem Sergeanten, der ihre Leidenschaft für Pferde teilte. Sie ritten auf Arbeitspferden, die sie sich von den französischen Bauernhöfen ausliehen. Vielleicht hatte es auch vor dem Krieg einen Mann gegeben. Aber es war anzunehmen, daß ein Mann, den sie zu Hause getroffen und in den sie sich vielleicht verliebt hatte, aus Kreisen stammte, die in ihrer Familie als akzeptabel gegolten hätten. Kate verfolgte jedoch eine andere Theorie und suchte nach einem Liebhaber niedrigeren Standes.
Die Frage war, wo hatte die Whitmore ihn kennengelernt? Wenn sie tatsächlich, wie es schien, einen gewissen Hang zu linker Politik gehabt hatte, dann war sie ihm vielleicht in irgendeinem sozialisti-schen Club begegnet. Aber das gehörte eher in die dreißiger Jahre.
Im viktorianischen England hätte Kate natürlich genau gewußt, welche kirchliche Gruppe sich in welcher Stadt warum getroffen hat; über das gesellschaftliche Leben der zwanziger Jahre außerhalb von Londons Literatenzirkel wußte sie nur unangenehm wenig Bescheid.
Zwar war alles möglich, aber Kate neigte zu der Theorie eines Liebhabers während des Krieges. Vielleicht war er nach seiner Entlas-sung und einer Reihe unbefriedigender Jobs in London aufgetaucht.
Er konnte alles mögliche gemacht haben. Der springende
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