Toedliches Erbe
männlichen Nachrichteneinheit ange-schlossen und in einem schwer bombardierten Gebiet stationiert.
Deswegen waren die beiden Einheiten – vielleicht waren sie in Wirklichkeit auch nur eine; in militärischen Fragen bin ich ziemlich schwach – im Hinterland verborgen, und die Whitmore pflegte mit ein paar Soldaten auszureiten. Ihre Briefe sind bemerkenswert. Offen gesagt, wenn ich mir ein männliches Armeekorps von Amerikanern vorstelle, gehe ich davon aus, daß sie jede Frau vergewaltigen, die ihnen über den Weg läuft, wie man das immer im Theater und in Filmen sieht; aber dort hat scheinbar über allem eine gewisse Unschuld gelegen. Bei dem, was die Franzosen gewöhnlich von den Engländern halten, vermuteten sie natürlich das Schlimmste, aber da lagen sie, zumindest nach Darstellung der Whitmore, völlig falsch.
Die weiblichen Soldaten und die ›Tommies‹ stellten so etwas wie eine Einheit dar. Und natürlich ging gerade eine Welt unter.«
»Und dann ging sie zurück nach Somerville?«
»Zum Herbstsemester 1919. Und sie teilte sich mit der Tupe oder der Hutchins oder vielleicht beiden ein Eisenbahnabteil. Jedenfalls trafen sie sich. Im folgenden Jahr wohnten sie zusammen in möblier-ten Wohnungen, wahrscheinlich nicht weit von deinem Hotel. Dann gingen sie zusammen nach London, fingen an zu schreiben, trafen interessante Leute und genossen die goldenen Zwanziger. Die Tupe verkümmerte zum Eheweib, aber die beiden anderen machten noch eine Reihe von Jahren weiter. Schließlich heiratete die Hutchins ihren Ricardo und ging nach Amerika. Sie entdeckte das Geheimnis von Kunst und Einsamkeit, aber die Whitmore? Die kämpfte weiter für die beiden Ideen, die sie nicht losließen: Die Frauen sollten aufhören zu glauben, Gott habe sie zu Dienerinnen bestimmt, und sie sollten mehr aus ihrem Leben machen. Alle ihre Romane und Gedichte waren Versuche, das Leben einzufangen, und zwar unter der 115
Oberfläche des Alltags. Die Kritiker haben sie, abgesehen von ihrem letzten Roman, nicht zur Kenntnis genommen, und den haben sie ignoriert, weil er populär war. Sie hielt durch, bis sie ›North Country Wind‹ vollendet hatte, darauf gibt es eine Menge Hinweise. Nun ja«, schloß Kate schwach, »jetzt sind alle tot.«
»Aber weißt du«, sagte Phyllis, »mit den Klassenunterschieden sieht das heute noch genauso aus. Hugh hat überhaupt keinen Witz gemacht, als er in seiner neuen Oxford-Manier über die unteren Klassen beim Fußball sprach. Wie er mir sagte, hat er sich im Leh-rerzimmer einmal nach einem jüngeren Kollegen erkundigt und als Antwort erhalten, dessen Vorfahren seien nicht eben kultivierte Leute gewesen.«
»Es fällt mir zwar jetzt erst auf«, sagte Kate, »aber ich möchte behaupten, daß die meisten Profisportler in Amerika nicht eben aus höheren Gesellschaftskreisen stammen – nur fühlt sich kein Mensch bemüßigt, das zu erwähnen. Ist England immer noch so irrsinnig klassenfixiert wie früher, oder bekommt Hugh zufällig bei seiner Arbeit nur mit verknöcherten Leuten zu tun?«
»Ganz und gar nicht. Da gab es zum Beispiel einen ganz jungen Mann in Hughs Labor, der ursprünglich mit dem Stipendium einer staatlichen Schule nach Oxford gekommen war. Kaum hatte er mit dem Studium angefangen, ging er zu einem Treffen eines sozialisti-schen Clubs. Die erste Frage, die ihm einer der Anwesenden stellte, war, auf welche Privatschule er gegangen sei. Er hat bis heute nicht aufgehört, sich zu ärgern, sagt Hugh. Und er hat seitdem einen akademischen Erfolg nach dem anderen.«
116
Elf
K ate konnte nicht länger bleiben als die ursprünglich geplanten zwei Wochen, und der 22. Mai stand vor der Tür. Mit all den Briefen, die sie in Somerville zu lesen hatte, und den Romanen der Whitmore, die Somerville vollständig besaß, und den Hutchins-Romanen in der Bodleian-Bibliothek – ganz zu schweigen von den Gesprächen und Spaziergängen mit Phyllis – würde Kate kaum rechtzeitig fertig werden. Sie mußte aber unbedingt zu Leos letzten Baseballspielen wieder zurück sein. Die Krise am St. Anthony’s schien einen Stillstand erreicht zu haben, jedenfalls für den Augenblick. Währenddessen war Kate in Oxford, was Max anging, zu alarmierenden Schlußfolgerungen gekommen. An einem Abend gelang es ihr, alles als dumme Phantastereien abzutun, am nächsten Abend kamen sie ihr höchst vernünftig vor. Wahrscheinlich hätte sie zwischen diesen beiden Möglichkeiten endlos geschwankt, hätte sie nicht eines
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