Toedliches Geheimnis
Löwenzahn-Tees. »Willst du drüber reden?«
»Vielleicht ein andermal«, sage ich und denke dabei an Ben.
»Na, dann könntest du ja vielleicht zu meinem Vollmondtreffen heute Abend kommen, wenn du willst. Vielleicht findest du es befreiend.« Sie schiebt sich die Korkenzieherlocken aus den dunkelgrünen Augen.
»Nein danke«, sage ich, da ich es kaum als befreiend empfinde, einen ganzen Abend lang den Mond anzuheulen und improvisierte Bauchtanzeinlagen vorzuführen.
Mom nickt und richtet den Blick wieder auf ihre Packung mit Datteln, die sie komplett in den Mixer schmeißt und ihn dann anschaltet.
»Mom, da stimmt doch was nicht?!«, frage ich.
Sie braucht einen Augenblick, bis sie es bemerkt. Sie hat vergessen, die Datteln zu entsteinen - ein kulinarisches Vergehen, das mir schon vor langer Zeit mal passiert ist, als wir versucht haben, Fruchtschnitten zu machen.
Mom löffelt die Datteln heraus, in ihren Augen stehen Tränen, so als käme die Aussicht, nun möglicherweise ein stumpfes Mixermesser zu haben, dem Weltuntergang gleich.
»Mom?«
»Tante Alexia hat heute angerufen«, sagt sie, um ihre Tränen zu erklären.
»Oh«, sage ich und bereite mich auf das Schlimmste vor.
Sie wischt sich die Tränen fort und ringt um Fassung. »Es war gar nicht so schlimm. Sie hat nur irgendwie komisch geklungen, das ist alles.«
»Tante Alexia ist irgendwie komisch.«
»Sie arbeitet jetzt«, fährt sie fort, »damit sie was zu tun hat und ihr Leben wieder in den Griff bekommt. Sie geht zweimal die Woche zu einer Therapiegruppe und jeden Samstag zu einem Malkurs.«
»Und was ist dann das Problem?«
Mom schüttelt den Kopf. Ihre Mundwinkel ziehen sich zitternd nach unten. Und nur eine Sekunde lang sieht sie aus, als würde sie gleich wieder in Tränen ausbrechen. »Es geht ihr gut«, sagt sie schließlich. »Da bin ich sicher.«
Es folgt eine weitere Yoga-Atemübung, bevor sie anfängt, die Datteln zu entsteinen.
»Mom?«, frage ich, weil ich ihre Angst spüre.
Aber sie will ganz offensichtlich nicht darüber reden und gibt mir stattdessen Anweisungen, dass ich die Zucchini schälen, das Basilikum waschen und die Nüsse reiben soll. Es dauert nicht lange, und wir haben ein Gericht gezaubert, dessen sich selbst Sir Paul-vegan-McCartney
nicht zu schämen bräuchte. Ich nehme einen Stapel Teller und fange an, den Tisch zu decken. Dabei fällt mir ein großer brauner, an mich adressierter Umschlag auf, der auf den Buddha-Perlen meiner Mutter liegt. Ich nehme ihn in die Hand und bemerke sofort, dass er nicht mit der Post gekommen ist. Er ist nicht frankiert, nicht abgestempelt und hat keine Absenderadresse. Trotzdem reiße ich ihn auf und ziehe den Inhalt heraus.
Es ist ein Foto von mir, heute Vormittag vor dem Schulgebäude, das kann ich an den Klamotten erkennen. Jemand hat es auf glänzendem 20-x-30-Fotopapier ausgedruckt und ein großes rotes Herz um mich herum gemalt.
Ich drehe das Bild auf der Suche nach einem Namen oder einer Nachricht um, aber die Rückseite ist leer. »Hat das heute jemand für mich abgegeben?«
Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Es war im Briefkasten, zusammen mit allem anderen.«
»Und wann hast du die Post reingeholt?«, frage ich, weil ich mich wundere, wie jemand die Zeit haben konnte - vom Schulschluss bis jetzt -, ein Bild auszudrucken und bei mir zu Hause vorbeizubringen.
Sie hält kurz im Pressen des Grünrot-Safts inne und schaut mich an. »So um fünf rum, kurz bevor du nach Hause gekommen bist. Warum, was ist denn?«
Ich zeige ihr das Foto. »Wahrscheinlich nur ein Witz.«
»Sieht mehr nach einem heimlichen Verehrer aus.«
Ich fahre mit den Fingern darüber und denke an heute Morgen vor der Schule und versuche mich zu erinnern, wer da so rumstand.
»Camelia, ist alles okay mit dir?«, drängt meine Mutter. »War irgendwas in der Schule?«
Ich zucke die Schultern und bin versucht, ihr von Ben zu erzählen - von all den Gerüchten, die ich über ihn gehört habe -, aber ich habe den Eindruck, dass sie im Moment zu abgelenkt ist, ihre Augen sind starr auf die große, leere Schale gerichtet.
»Nur das übliche Erste-Schultag-Zeug.« Ich stecke das Foto wieder in den Umschlag und gehe in mein Zimmer, um Kimmie anzurufen.
Es steht zwar kein Absender auf dem Umschlag, aber so eine Geschichte sieht ganz eindeutig nach ihr aus.
8
»Ich hab absolut null Ahnung , wovon du überhaupt redest«, verteidigt sich Kimmie.
Weil ich sie am Abend nicht mehr erreichen konnte, muss
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