Tödliches Vermächtnis - Lethal Legacy
ihnen geworden?«
Bea strich sich mit dem Handrücken über das rot gelockte Haar. »Wie es im sechzehnten Jahrhundert oft bei Objekten von wissenschaftlichem Interesse der Fall war, wollte man sie in Europa möglichst weitflächig verteilen, um das neue Wissen, das die Entdecker von ihren Reisen mitbrachten, unter das Volk zu bringen. Diese Streuung hatte zur Folge, dass viele Sachen verlorengingen, sodass nur wenige die Kriege, Plünderungen und üblichen historischen Umbrüche im Laufe der Zeit überdauern konnten.«
»Was ist mit der Größe der Karte?«, fragte ich.
»Das ist in der Tat auch ein Problem. Je größer eine alte Karte, desto seltener ist sie normalerweise. Das große, unhandliche Format hat die Zerstörung dieser Karte sicherlich beschleunigt. Sie war viel größer als die meisten Karten damals, die - einmal zusammengefaltet - in einem Großfolio aufbewahrt wurden. Nie gebunden. Allein schon die Aufgabe, zwölf Stücke dieser Größe in bestem Zustand zu erhalten und zu verhindern, dass sie auseinandergerissen werden, war ein Kunststück.«
»Was ist ein Großfolio?«, fragte Mike.
»Damit bezeichnet man ein sehr großes Buch, Detective. In der Regel höher als sechzig Zentimeter. Der Audubon, in dem Sie die Karte gefunden haben, ist ein doppeltes Großfolio - so groß, dass sich darin locker eine Karte verstecken lässt. Ich zeige Ihnen etwas.«
Bea verschwand hinter der Theke und kam ein paar Minuten später mit einem Großfolio-Buch zurück.
»Das hier ist ein Buch mit Reproduktionen von berühmten Karten«, sagte sie und legte es neben das Kartenstück, das Mike in der Audubon-Ausgabe gefunden hatte. »Hier können Sie sich eine Ahnung davon verschaffen,
wie eindrucksvoll die echte Karte ist, wenn man alle Teile, wie ursprünglich geplant, zusammensetzt.«
Sie faltete die übergroßen Seiten auseinander und breitete sie vor uns aus. Die zwölf Teile fügten sich zu einem riesigen Rechteck. Das Fragment, das Mike unter dem Wassertank im Dachgeschoss der Bibliothek entdeckt hatte, kam in der oberen Reihe von insgesamt vier Teilen an dritter Stelle von rechts.
»Sie haben recht«, sagte ich und ließ den Blick über die Kontinente und Inseln, Meere und Ozeane wandern. »Sie ist nicht nur wunderschön gezeichnet, sondern für die Zeit auch unglaublich präzise.«
»Für die Menschen in Europa, die nie aus ihren Dörfern herauskamen, war dieses neu entdeckte Wissen eine Inspirationsquelle für ihre eigenen Träume von fernen Ländern«, sagte Bea. »Heutzutage gibt es keine Terra Incognita mehr. Sie können sich auf Ihrem GPS-Gerät ein Satellitenbild Ihres eigenen Gartens oder eines Pazifikatolls herunterladen. Diese frühen Karten stellten jedoch eine bis dato unbekannte Welt dar und sind deshalb unglaublich spannend.«
»Sie sagten, ein vollständiges Original befindet sich in der Library of Congress«, sagte Mike. »Wann wurde das gefunden?«
»Vor über einem Jahrhundert. Dieses Stück, das Sie heute Morgen gefunden haben, ist das erste Fundstück dieser Art seit hundert Jahren.«
»Erzählen Sie uns vom letzten Fund.«
Wenn es um die Geschichte der Kartografie ging, stand Bea Duttons Wissen ihrer Begeisterung in nichts nach. »Haben Sie schon mal von einem deutschen Jesuitenpater namens Josef Fischer gehört?«
Wir schüttelten alle drei den Kopf.
»Ein brillanter Gelehrter und möglicherweise auch ein kleiner Filou. Die Yale-Universität besitzt eine sehr seltene Karte, die der Bibliothek von dem großen Philanthropen Paul Mellon gestiftet wurde - die sogenannte Vinland-Karte. Wäre sie echt, müsste man davon ausgehen, dass unser Kontinent bereits fünfzig Jahre vor Kolumbus von den Wikingern entdeckt wurde.«
»Klingt so, als würden Sie daran zweifeln«, sagte Mike.
»Mittels Radiokarbonanalyse wurde das Pergament tatsächlich auf die Zeit um 1430 datiert, aber chemische Untersuchungen haben ergeben, dass die Tinte aus den 1920er-Jahren stammt. Es ist ein altes Papier - wie man es leider aus jedem alten Buch herausschneiden kann -, aber die Tinte hat es verraten.«
»Also ist Pater Fischer ein Betrüger?«
»Na ja, wir Fachleute sind mehrheitlich der Ansicht, dass es nur einen Einzigen gab, den er mit seiner gefälschten Karte übers Ohr hauen und in Verlegenheit bringen wollte - und das war Hitler.«
»Dann ist mir der Knabe schon wieder sympathisch«, sagte Mike. »Wie wollte er das denn anstellen?«
»Hitler hat die nordische Geschichte für seine Nazipropaganda
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