Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
hatte auch Greger Forsberg die Erfahrung gemacht, dass einen ein Kleinkind zur Raserei bringen konnte.
Entlastend war nach Forsbergs Dafürhalten jedoch der schier unglaubliche Umstand von Lucies Verschwinden: am helllichten Tag, mitten auf dem Kungstorget. Eltern, die etwas vertuschen wollten, würden sich eine bessere Geschichte ausdenken. Zudem gab es einen Zeugen. Ein Verkäufer des Marktstands hatte den abgestellten Buggy mit dem Kind darin bemerkt, weil er ihm im Weg gestanden hatte. Leider hatte der junge Mann nicht gesehen, wer ihn von dort weggeschoben hatte.
Forsberg hatte die Anweisung hinterlassen, sofort informiert zu werden, sollte eine Geldforderung eingehen. Aber er bezweifelte inzwischen, dass das geschehen würde. Ein Entführer hätte sich längst gemeldet. Außerdem: Wer auf Geld aus war, überließ Zeit und Ort einer Entführung nicht dem Zufall, und Tinka Hansson hatte sich spontan, nach einem Telefonat mit ihrem Mann, für den Einkauf in der Markthalle entschieden. Wahrscheinlicher erschien dem Kommissar, dass Lucie das Opfer einer psychisch gestörten Frau geworden war. Ein niedliches kleines Mädchen sitzt allein in seinem Buggy zwischen Salatköpfen und Orangenkisten, vielleicht fängt es an zu weinen, die Mutter reagiert nicht sofortEine Kurzschlusshandlung.
Forsberg war noch immer in Gedanken versunken, als er im Vorbeigehen an den Briefkästen etwas Farbiges wahrnahm, das durch den Schlitz aus seinem Kasten hervorblitzte. Werbung, sagte er sich. Aber dennoch bekam er Herzklopfen, als er den Kasten aufschloss.
Eine Ansichtskarte fiel ihm entgegen. Sie trug eine italienische Briefmarke und zeigte eine Art Kirche. Auf der Rückseite war seine Adresse in sehr gleichmäßigen Druckbuchstaben zu sehen und links oben stand kleingedruckt Torino und Mole Antonelliana . Darunter dehnte sich höhnisch eine leere Papierfläche.
Irgendwie schaffte er es bis in den zweiten Stock, hangelte sich zum Kühlschrank, goss sich Wodka in ein Wasserglas und stürzte ihn hinunter. Der Schnaps fraß sich durch die Kehle und war noch im Magen zu spüren. Er war hungrig gewesen, aber jetzt saß Forsberg am Küchentisch und starrte auf die Mole Antonelliana , auf die St. Giles’ Cathedral in Edinburgh und die Ansicht einer Amsterdamer Gracht mit Ausflugsbooten und Fahrrädern, die er über dem Tisch an die Wand gepinnt hatte. Auf allen drei Karten war die Adresse in geraden, schablonenhaften Druckbuchstaben mit Kugelschreiber geschrieben worden, und alle drei Karten waren ohne Text. Nicht eine Silbe.
Weil ich dir nichts zu sagen habe? Von keiner der Städte hatte Annika jemals gesprochen. Eine Kirche, eine Gracht, einewas war überhaupt eine »Mole«? Er fuhr seinen Laptop hoch. Mole : sehr großes Bauwerk Die Mole Antonelliana ist das Wahrzeichen von Turin und das höchste Gebäude Italiensspektakulärer AufzugFilmmuseum Verbarg sich dahinter eine Symbolik, die er nicht zu deuten vermochte? Der Poststempel war vom 31. Juli. Siebzehn Tage hatte die Karte von Norditalien nach Göteborg gebraucht, so viel zum Fortschritt in der EU . Kein besonderes Datum, der 31. Juli. Auch die anderen beiden nicht.
Edinburgh, Stempel unleserlich, eingetroffen am 7. März 2006
Amsterdam, Poststempel 10. Januar 2007
Turin, Poststempel 31. Juli 2007
Annikas Geburtstag war der 20. September 1987. Seiner war im Februar und der von Annikas Mutter Benedikte im Mai. Gestorben waren Benedikte und ihr Mann Lars am 12. Februar 2000.
Forsberg hörte Schritte aus der Wohnung über ihm, und ein wenig Putz rieselte auf die Postkarten. Der Riss in der Decke kam ihm länger vor als noch vor ein paar Tagen, aber er konnte sich täuschen. Im Bad war vorige Woche die dritte Fliese von der Wand gefallen.
Ungefähr sieben Prozent der Häuser in der Stadt waren einsturzgefährdet, weil sie auf lehmigem Grund gebaut waren, hatte neulich im Göteborg Dagbladet gestanden. Die Stadtverwaltung unternahm nichts dagegen, im Gegenteil, sie gaben nicht einmal genau an, welche Straßen betroffen waren. Aber vielleicht stimmte auch, was sein Vermieter behauptete, dass das alles harmlos wäre und bei Altbauten ganz normal. »Das Haus arbeitet«, pflegte er zu sagen, wenn Forsberg ihn darauf ansprach. Zwei der acht Wohnungen im Haus standen jedoch seit Wochen leer, was bei dem hiesigen Mangel an preiswerten Mietwohnungen für sich sprach. Aber Forsberg wollte nicht umziehen. Die Wohnung war günstig, und er hatte es von hier aus nicht weit zur Arbeit.
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