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Töten Ist Ein Kinderspiel

Töten Ist Ein Kinderspiel

Titel: Töten Ist Ein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
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gerissen, weil sie nicht mit hinauskommen wollte.“
    Ob denn die Anni verstanden hätte, was der Fremde gesagt hat?
    „Die Anni ist nicht mehr so auf dem Damm. Sie hat verstanden, dass die Frau Pfarrerin ein Kind von ihm bekommt! Aber die ist doch verheiratet!“
    „Könnten Sie den Mann beschreiben?“, fragte Erkner, und im selbem Moment begriff er, dass er einen Fehler gemacht hatte.
    Die beiden Seniorinnen sahen sich an. „Sie wollen gar nicht singen.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
    Erkner schüttelte den Kopf, antwortete aber: „Doch, auch, also …“
    Weiter kam er nicht. „Sind Sie ein echter Kommissar?“, unterbrach ihn die Grauhaarige jetzt mit leiser Ehrfurcht.
    Ehe er sich’s versah, befand sich Frank Erkner mitten in einem Verhör, und es dauerte eine geschlagene Stunde, bis er Nowak und Berger telefonisch von dem in Kenntnis setzen konnte, was er in Erfahrung gebracht hatte.

Drei
    Hannes nannte man nicht behindert, er hatte ein Gymnasium besucht.
    „Für einen Krüppel ist mein Abi gar nicht übel.“
    Aber man erwartete, dass er mit seinen Flügeln nicht zu wild um sich schlug. Für sein Anderssein gab es ein Wort, so unberechenbar wie das Mittel, das seine Mutter während der Schwangerschaft eingenommen hatte: Contergan.
    „Wenn sie mich lassen, studiere ich Medizin.“
    „Und wenn nicht?“
    „Dann auch.“
    Er war in dem Dorf, in dem auch ich groß geworden war, der Einzige, dessen Hände an den Oberarmen herausgewachsen waren und der ungewöhnliche Verrenkungen machen musste, um sich seiner Finger zu bedienen. Nackte Füße immer, und keiner befahl ihm je, sie vom Tisch zu nehmen. Geschickte Glieder, ein beweglicher Sommermensch, der Winter sein Feind.
    „Ich hasse Strümpfe. Strümpfe sind Gefängnisse, sie sperren mich ein.“ Er schaute mich an, erwartungsvoll. „Füße wollen frei sein.“
    „Füße wollen Wärme“, sagte ich. „Die Kälte nagelt sie fest, sie treibt das Blut über die Ränder des Körpers. Der Schmerz abgestorbener Zehen pflockt dich in die eisige Erde, nicht ans Weglaufen denkst du, nur an den Schlaf, der nicht kommt, wenn es in den Adern pocht und du fürchtest, dir platzt die Haut. Meine Füße haben sich von den Erfrierungen nie wieder erholt, drei Winter mit nichts als gewickelten Lumpen zwischen Haut und Frost, Beulen an Leib und Seele, jeder Schritt einer mehr in Richtung Eis.“
    „Trägst du deshalb solche Schuhe?“, fragte der Leichtfüßige.
    Wer nach ’45 ein guter Schuhmacher war, hatte ausgesorgt. Tausende verkrüppelter Füße warteten auf quietschendes Leder, hochgeschnürt bis zu den bläulichen Knöcheln. Derbes Schuhwerk für das, was übrig geblieben war von den Märschen an die Front und durch die Lager. Siebzig Mark Zuzahlung für die orthopädische Sonderanfertigung, den Rest bezahlte die Kasse, maßgeschneiderte Wiedergutmachung für die Kriegsversehrten. Für mich hatte keiner etwas übrig. Ich wollte kein Mitleid, aber was ich noch viel weniger wollte, war Aufsehen.
    „Verstehe ich nicht“, sagte Hannes.
    Natürlich nicht. Sein Anderssein ließ sich nicht verstecken. An seiner Stelle hätte ich danach vielleicht eine kleine Rente bekommen, Entschädigung, wer weiß. Wahrscheinlicher aber wäre gewesen, ich hätte das Ende des Krieges nie erlebt. Sadisten wie Wenger hätten mich zu medizinischen Zwecken benutzt oder gleich exterminiert. Hannes wäre ein klarer Fall für die Euthanasie gewesen. Oder für Dr. Rech, der eigentlich Zahnarzt gewesen war. Niemals habe ich Hannes von ihm erzählt, denn noch nach all den Jahren fürchtete ich, seine Seele könnte heimatlos herumirren und den Jungen in meinem Wohnzimmer vergiften.
    Abspritzen.
    So viele habe ich vor den Injektionen nicht retten können. Beobachtete Rechs Schatten im Krankenbau und konnte mir genau vorstellen, wie er einer Kranken oder Schwachen, die um Linderung flehte, die Todesspritze setzte. Wenn Ilse und ich dann frühmorgens in die Ambulanz kamen, um unseren Dienst anzutreten, fanden wir eine Leiche auf der Bahre. Kalt, starr, erlöst.
    „Iris, sei bloß still“, hüstelte Ilse. „Wir haben Glück, dass wir nicht da liegen.“
    Glück. Ein Wort, das ich damals nicht einmal mehr hätte buchstabieren können, und doch hatte Ilse recht. Der Todesengel, der mich am 17.03.1943 aus dem Schlaf riss, hatte ein anderes Schicksal für mich vorgesehen.
    Asozial. Wie die anderen Gefangenen steckten sie uns in Streifenkleider, unförmige Hosen, zwängten uns

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