Töten ist ganz einfach: Thriller (German Edition)
des Trostes. Und dann beginnt alles wieder von vorn bis ins Unendliche, bis man das Licht am Ende des Tunnels sieht, ohne dass dieses eine Erlösung bringt.“
Die Stimme der Frau wurde schneller, lauter und immer schriller. Giorgio Miller und der Webmaster hinter der Glasscheibe starrten gebannt auf Tony Braun, der mehrmals zur Antwort ansetzte, die Frau aber nicht unterbrechen wollte.
„Doch diese Erlösung gibt es nicht, solange die Familie existiert!“
Abrupt stoppte sie, so, als hätte sie sich wieder unter Kontrolle. Ganz leise redete sie weiter:
„Sagen Sie mir, verhindert eine Familie das wirkliche Leben? Kann es sein, dass man von ihr abhängig wird und auf sein eigenes Leben vergisst?“
„Hör mal, die Familie ist der Rückhalt, kapiert? Meine Familie ist im Arsch, ich wäre froh, wenn ich deine Probleme hätte! Glaube mir, alles würde ich für eine Familie geben!“
Braun räusperte sich und Flüche, Beschimpfungen lagen ihm auf der Zunge. Er wollte dieser anonymen Nervensäge sagen, dass die Ebene plötzlich viel zu persönlich wurde, dass dieses Familienthema zu viel für ihn war, dass er einfach in Ruhe sein Bier trinken wollte. Doch er kam nicht dazu, denn die Frau redete einfach weiter.
„Dachte ich mir schon, dass Sie keine Familie haben! Darum moderieren Sie diese Sendung auch mitten in der Nacht, wo alles schläft und niemand zuhört. Wo nur Menschen wach sind, die niemand mehr haben, die davon träumen, die Augen zu schließen und glücklich aufzuwachen im Kreise ihrer Liebsten! Die aber spüren, dass es aus der schrecklichen Einsamkeit kein Entrinnen gibt, sich aber trotzdem an diesen Traum klammern. Dieser Traum geht jedoch nie in Erfüllung. Für Sie nicht, weil Sie es zu sehr wollen, und für mich nicht, weil ich zu viel davon habe.“
Trockenes Schluchzen war zu hören, dann drang ein lautes Tuten aus den Lautsprechern, denn die Frau hatte spontan die Verbindung getrennt. Reflexartig startete Braun den Song von Nolita von Keren Ann, um sieben Minuten Luft vor dem nächsten Anruf zu haben. Die Tür ging auf und Giorgio Miller schob sich herein.
„Starkes Stück. Tolles Liveerlebnis. Über 300 Hörer sind online und schreiben wie verrückt ihre Familienstorys! Wer war diese Frau, Tony?“
*
Der Bang-&-Olufson-Telefonhörer lag noch auf dem dunklen Holzboden und im Radio sang sich Keren Ann durch sieben Minuten Nolita. Als sie das begeisterte Händeklatschen aus dem hinteren Teil ihres Wohnzimmers hörte, stemmte sich Tatjana Drakovic langsam an der Wand entlang in die Höhe. Sie atmete tief durch, schluckte ein paarmal fest, vermied es, einen Blick Richtung Designercouch zu riskieren, sondern tappte barfuß zur Kochinsel auf der anderen Seite, dort, wo der Wodka stand. Dann goss sie sich ein Glas voll ein, stürzte es mit einem Zug hinunter, schenkte sofort nach. Erst dann drehte sie sich um.
„Zufrieden?“, fragte sie den Mann, der sich auf ihrer Designercouch breit gemacht hatte, noch immer klatschte und sie dabei amüsiert betrachtete.
„Zufrieden? Ist es das, was du wolltest?“, wiederholte sie und nahm einen großen Schluck.
„Das war große Klasse, Schwesterchen! Tony Braun, der Jäger der verlorenen Familie! Du hast ja fast geweint! Echt rührend“, grinste Bogdan Drakovic und prostete ihr zu.
Langsam ging Tatjana Drakovic auf ihren Bruder zu, spielte kurz mit dem Gedanken, ihm das halbvolle Wodkaglas ins Gesicht zu schleudern, aber was hätte das schon geändert? Bogdan Drakovic klopfte auffordernd auf das Sofa.
„Setz dich, komm setz dich! Jetzt hast du ihn an der Angel“, redete er weiter, während sich Tatjana Drakovic schwer auf das Sofa fallen ließ. „Mach ihn von dir abhängig, ihr seid doch zwei verwandte Seelen! Geh mit ihm ins Bett, merk dir alles, was er sagt! Ich will alles wissen!“
„Und wenn ich das nicht will?“, sie drehte den Kopf zu ihrem Bruder und sah ihn fragend an. „Wenn ich aussteigen will? Neu anfangen möchte?“ Sie stockte kurz, ehe sie weiterredete. „Was ist, wenn ich mich einmal noch verlieben möchte?“
Bogdan Drakovic lachte laut auf.
„Mach dich nicht lächerlich! Du bist fast vierzig, ohne besondere Fähigkeiten und vor allem ...“ Er bleckte die Zähne. „Du hast kein Geld, wenn du aussteigst! Dann bist du ein Nichts!“
Er machte eine ausholende Armbewegung.
„Wer finanziert das alles hier?“ Er packte sie am Arm, schüttelte sie heftig. „Na los, wer finanziert dein Luxusleben?“ Ohne sie
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