Töten ist ganz einfach: Thriller (German Edition)
gastierte ein Wanderzirkus nicht unweit des Dorfes, Ivanka ließ sich von einem jungen Roma namens Vuk auf der Gitarre begleiten, gemeinsam interpretierten sie Songs der Beatles und des serbischen Popstars Brajanovic. Diese Beziehung hatte natürlich Folgen und als der Zirkus in Richtung Mazedonien weiterzog, war Ivanka schwanger. Igor Drakovic besorgte sich eine kurzstielige Axt, wie sie die Waldarbeiter verwendeten, und folgte der Spur des Wanderzirkus. In einer heißen Sommernacht überraschte er den Gitarre spielenden Vuk im Wald. Mit einem einzigen Hieb trennte er ihm die rechte Hand ab, Blut spritzte fontänenartig aus dem Armstumpf, für einen Augenblick dachte Igor Drakovic daran, den Roma ausbluten zu lassen, besann sich dann aber eines Besseren. Mit einem Strick stoppte er die Blutung.
„Du sollst nicht sterben, sondern immer an mich denken!“, waren seine Worte.
Doch von dieser Tat wusste seine Schwester natürlich nichts. Nach einem gescheiterten Gesangsstudium zog sie sich immer mehr in ihre Traumwelt zurück, hielt sich tatsächlich für eine bedeutende Opernsängerin, der die Welt zu Füßen lag. Oft verbrachte sie die Zeit wochenlang in ihren Zimmern, lauschte verzückt den Opernarien der Diva Maria Callas, kleidete sich wie diese und begann sich wie eine echte Operndiva zunehmend exaltiert und exzentrisch zu verhalten. Sie bestellte Regisseure, Gesangslehrer, Dramaturgen und Musiker in das Palais, um gemeinsam mit diesen ihren jährlichen Arienabend in Valdemossa zu organisieren. Diese von Igor Drakovic finanzierten Abende waren der jährliche Höhepunkt in Ivankas ereignislosem Dasein, das sie mit Unmengen von Pralinen und Antidepressiva fristete. Doch schon seit Jahren konnte sie sich keine Notenfolge oder Textzeile mehr merken, egal ob Tosca oder Madame Butterfly, ihre Lieblingsopern. Ivanka Drakovic kam mit ihrer Stimme nicht über die ersten Töne hinaus und entschied sich jedes Jahr wieder für die simplen Songs von Brajanovic, dem Star ihrer Jugend. So wurden ihre Arienabende zu bizarren Events, das von Drakovic gekaufte Publikum war zwischen Belustigung und Ratlosigkeit hin und her gerissen, wenn die zunehmend übergewichtige und auf Maria Callas gestylte Ivanka kurzatmig und in den hohen Lagen kippend die unglaublich traurigen Lieder des längst vergessenen Sängers Brajanovic als Pseudoarien intonierte.
Auch der Mord an ihrem Sohn Milan war nicht bis in ihr Bewusstsein vorgedrungen, so wie sie auch ihre Rolle als Mutter nie akzeptiert hatte und Milan daher bei der Familie ihres Bruders aufgewachsen war. Im Grunde war Ivanka Drakovic noch immer die verliebte Sechzehnjährige aus einer verklärten Vergangenheit, die mit der Realität nichts anzufangen wusste. Für sie gab es kein Heute und kein Morgen. Für Ivanka existierte nur das Gestern, dieser zarte Glücksstrahl der Liebe, der sie für einen kurzen Augenblick gestreift hatte, den ihr Bruder jedoch rücksichtslos ausgelöscht hatte und von dessen wärmendem Licht sie noch immer zehrte.
„Ich werde die Todesarie ,Con onor muore‘ aus Madame Butterfly singen und unsere Gäste werden rasen vor Begeisterung. Vuk wird mich auf der Gitarre begleiten, es wird sein wie früher.“
Traurig beobachtete Igor Drakovic seine Schwester, die unförmig wie ein gestrandeter Wal mit ausgebreiteten Armen in ihrem Kaftan die Galerie entlangschlurfte, schmuckbehängt, mit verwischtem Bühnen-Make-up, und verzweifelt versuchte, die Schlusstakte der Arie „Con onor muore“ zu singen, aber doch nur ein schrilles Krächzen zustande brachte.
Tief in seinem Herzen liebte er seine Schwester und wusste, dass er das Fest zu ihrem sechzigsten Geburtstag auf keinen Fall absagen konnte, diesen Abend war er Ivanka schuldig.
Ein plötzlich ausscherender Lastwagen riss Igor Drakovic aus seinen Gedanken. Mit quietschenden Reifen bremste er den Bentley wieder auf das normale Tempo ein und schlich hinter dem Laster her. Nach dem Auftritt seiner Schwester heute Morgen hatte er wieder intensiv über den Mord an seinem Neffen Milan nachgedacht und über das Motiv gerätselt. Das Telefonat mit Bogdan bestärkte ihn nur in seinem Verdacht, dass hinter dem Mord an Milan ein Überlebender von damals stecken musste. Igor Drakovic war zunächst skeptisch gewesen, es schien zu unwahrscheinlich, doch Bogdan überzeugte ihn schließlich mit seiner Argumentation.
„Niemand wagt es, offen gegen uns aufzutreten“, hatte sein Sohn Bogdan gesagt.
„Alle sind doch nur an
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