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Tod hat mich sehr gewundert«, sagte Jewgenij Jacob Fünfgeld mit einem Anflug von Sentimentalität. »Eine so junge Frau, wie überflüssig!«
»Lassen Sie es mich erklären«, räusperte sich Ranchin. »Melissa und ich haben ausführlich die Zusammensetzung und Austarierung der Formel debattiert –«
»Was überhaupt nicht in Ihre Kompetenz fiel«, unterbrach ihn Sterzel. »Sie sind kein Informatiker!«
»… und ich kam dabei zur Überzeugung, dass es ein Fixmaß geben solle, dem sich die Werte der Menschen linear unterordnen, keine offene Skala. Alle im Team mussten für den Eichvorgang ihre Werte zur Verfügung stellen, und Melissa übertraf nicht nur die Programmierer, sondern erstaunlicherweise auch mich. Damit stand fest, dass sie die Obergrenze markierte und die Eichmarke bilden sollte.«
»Was für ein Unsinn!«, empörte sich Joachim Sterzel. »Selbstverständlich ist die Skala der Tod -Werte offen. Wie können wir heute wissen, zu welchen Additionseffekten es bei künftigen Generationen mit völlig anderem Sozialverhalten kommt?«
»Dann aber sprang mir ein kapitaler Fehler ins Auge«, fuhr Ranchin ungerührt fort. »Ein Fehler, den ich nicht durchgehen lassen konnte. Durch die Folgen ihrer Diabetes wäre Melissas Wert immer stärker unterminiert worden und damit das ganze Formelgefüge in eine Schieflage geraten – falls ich sie am Leben gelassen hätte.«
»Außerdem war sie zu viel, also überschüssig, nicht wahr?«
Das Wienerisch von Professor Helene Siebenhofer klang freundlicher als der Inhalt ihrer Botschaft. »Meine hochverehrten Herren, Ihnen ist das Exklusionsgebot der Bruderschaft offenbar nicht sakrosankt. Mir schon! Mit dem Eintritt der Person Pia Holzwanger wurde der zulässige Frauenanteil unwiderlegbar überschritten.«
Ein gequältes Seufzen entrang sich Joachim Sterzels Brust.
»Nur ein Nebenaspekt«, versicherte Ranchin. »Dankenswerterweise hat mir die Kollegin Siebenhofer geholfen, das Problem zu beheben. Und zwar ohne eindeutige Spuren. Im Körper von Diabetikern überrascht eine Überdosierung von Insulin kaum. Ein tödliches Missgeschick … zumal sich Insulin nach ein paar Stunden nicht mehr nachweisen lässt.«
Joachim Sterzels Seufzen ging in ein Stöhnen über. Man sah ihm förmlich an, wie ihn das schlechte Gewissen zu Boden drückte.
»Messen wir diesem Nebenkriegsschauplatz doch keine solche Bedeutung bei«, entschied Jewgenij Jacob Fünfgeld. »Es ist halb zwölf, wir –«
»Wir artikulieren Protest!«, ließ sich lautstark Reimar Dijkerhoff vernehmen, der unvermittelt die Tür aufgerissen hatte. »Die ausgeschlossenen Führungsmitglieder drängen auf Teilhabe!«
Er schob Pia in den Raum, als suche er hinter ihrem Rücken Deckung.
Kingfish hatte sich noch einmal mit dem Backdoorpasswort F8 in Melissas eigenartige Programmausstülpung eingeloggt und starrte auf den Zeichenstrang, der ihn in seiner Übermüdung zwölf Stunden zuvor so wütend gemacht hatte: You look for a killswitch? Ask your question .
Er kratzte sich an seinem stoppeligen Kinn. Diesmal erschloss sich ihm der Hinweis. Für IT – Konzerne war der Killswitch, jener geheime Fernzugriff auf Computer und chipgesteuerte Geräte, das,was sich Diktatoren von ihrer Geheimpolizei erhofften: die totale Kontrolle. Politiker sehnten sich ingeheim nach einem Killswitch fürs Internet, und wenn Melissa eine solche Zentralsteuerung in Toggle Democracy eingebaut hatte, um etwaiges Unheil zu verhindern, dann war es Kingfishs verdammte Pflicht, diese Zentralsteuerung zu entdecken!
Switch … Toggle … Switch … Toggle …
Es war ungebräuchlich, von einem Killtoggle zu sprechen, obwohl sich die Bedeutung beider Worte fast deckte. Switch hieß Schalter, wie Toggle Schalter hieß. Melissa hatte Wortspiele gemocht.
Janek Jabłoński rief Toggle Codesearch auf, einen Dienst, mit dem sich die Bausteine öffentlich zugänglicher Software suchen ließen, und gab den Begriff Killtoggle ein. Zu seiner Verblüffung warf die Maschine ziemlich viele Ergebnisse aus – allerdings nur, weil sie zahllose Codefragmente auflistete, in denen ein Befehl Skilltoggle vorkam. Skill und kill – Fähigkeiten und Zerstörung lagen nur einen Buchstaben voneinander entfernt.
Er scrollte die lange Bildschirmseite herunter.
Da!
Im letzten Fragment, einem Open-Source-Quellcode ohne tieferen Sinn, stand das gesuchte Wort in der Kommandozeile. Veröffentlicht von einer gewissen LogIn, besser bekannt als Melissa
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