Toggle
ertönten das Lachen und das Geschrei sich gegenseitig jagender Jugendlicher. In dieser Situation schienen die Aussichten auf ein Zimmer schlecht, doch hatte der abgebrochene Toggle-Kongress im Buchungscomputer Spuren des Chaos hinterlassen. Ausgerechnet die teuerste Suite und das billigste Turmzimmer waren unbelegt geblieben. Kingfish wählte für sich die Windows-on-the-Mountain-Suite und übernahm, nachdem er Pia erfolglos die Vorteile einer Hotel- WG auf Zeit vor Augen geführt hatte, auch die Kosten fürs separate Zimmer.
Nachdem Pia viele Stufen hochgestiegen war, stand sie in einem erkennbar unorganisch in den Turmgrundriss hineingezwängten Raum, der mit seinem notdürftig abgeteilten Badezimmer eher einem Drei-Sterne- als einem Fünf-Sterne-Domizil glich. Doch ihr war es recht, sie benötigte nur eine halbwegs funktionierende Dusche. Nach 900 Kilometern Autofahrt im Humvee war sie komplett durchgeschwitzt.
Während sie sich auszog und kühles Wasser über ihren Körper rinnen ließ, rekapitulierte sie die letzten Stunden. Die meiste Zeitüber hatte Kingfish auf dem Beifahrersitz wie ein Klotz geschlafen, und als er kurz vor Mellau erwachte, dauerte es eine ganze Weile, bis er seiner Erinnerungen habhaft wurde. Schließlich gestand er, nicht zu wissen, wie er in den Besitz der gesuchten Dongles kommen solle: »Ich bin nur ein Datendieb. Ich kann Informationen beschaffen. Aber wie man Gegenstände klaut, weiß ich nicht.«
»Vielleicht genauso?«, hatte Pia vorgeschlagen.
»Tür aufmachen, reingehen, wegnehmen? Da wäre nur ein kleines Problem: Bei Gegenständen fällt auf, dass sie weg sind.«
»Vertagen wir die Entscheidung, vielleicht kriege ich eine Idee. Aber was machen wir mit den Dingern, wenn wir sie besitzen?«
»Ich schaue mir den Formelcode an. Ist er okay, lass ich ihn. Ist er nicht okay, repariere ich ihn.«
»Und wir löschen die Formel nicht?«
»Nein, wieso?« Kingfish war über dieses Ansinnen ehrlich verblüfft gewesen. »Die Formel gehört Toggle. Außerdem ist sie doch ein Fortschritt! Fortschritt kann man nicht löschen. Man muss nur darauf achten, dass er in den richtigen Händen bleibt.«
Pia trat aus der Dusche, schaltete die 22-Uhr-Nachrichten ein und sah den Bericht über ein Flugzeugunglück. Dass dabei schon wieder Toggle erwähnt wurde, passte ins Bild. Toggle war überall, und an der Beichte ihres Mannes hatte sie am allerwenigsten gestört, dass er den Suchmaschinenkonzern verlassen wollte. Pia war Optimistin. Andere Möglichkeiten würden sich ergeben. In der deutschen Mittelschicht verhungerte man nicht.
In diesem Moment erschien ein Porträtfoto Walter Weinbergers auf dem Fernsehschirm, doch sie sah nicht hin, weil sie sich mit der Telefontastatur beschäftigte.
»Olga? Alles in Ordnung bei euch?«
»Ja.«
»Hast du geheult?«
»Nein.«
»Klingst aber so.«
»Hab nur Nachrichten gesehen.«
»Um die Zeit? Es ist zehn! Warum bist du eigentlich noch nicht im Bett? Gib mir sofort deinen Vater!«
»Geht nicht«, druckste Olga am anderen Ende der Leitung herum.
»Wie, geht nicht?«
»Der hat sich schon hingelegt.«
Pia konnte es nicht fassen. Olga kam ihrer Reaktion zuvor: »Dem ist bei den Nachrichten schlecht geworden.«
Typisch Mann! Musste er einmal Verantwortung für die Familie übernehmen, machte er schlapp! Pia instruierte ihre dreizehnjährige Tochter noch, auf welche Weise sie die kleinen Geschwister versorgen solle, falls der Vater auch am kommenden Tag ausfiel, und legte dann abrupt auf.
Von draußen drangen kratzende Geräusche.
Pia war mit zwei Schritten an der Tür und riss sie ruckartig auf. Professor Reimar Dijkerhoff starrte die nackte Frau an.
»Susanna im Bade«, entfuhr es ihm. »Trugbild, weiche von mir!« Der langhaarige Philosoph war schockiert. »Sehe ich Gespenster?«, murmelte er. »Nur weil man mir den Stuhl vor die Tür gestellt hat.«
»Ihr Zimmer liegt ein Stockwerk höher, Professor«, sagte Pia, die sich noch an die Klagen ihres Mannes über Dijkerhoffs Hotelmarotten erinnerte. »Aber kommen Sie rein, ich bin gleich angezogen. Wer hat Ihnen den Stuhl vor die Tür gestellt?«
Sie zog den verdutzten Philosophen hinein. Er wusste nicht, wer diese Frau war, aber egal. Er musste Dampf ablassen. Außerdem sah er trotz aller Groupies nicht so oft nackte Frauen.
Kingfish hatte im Gewittersteinflügel sein mitgebrachtes Equipment zur elektronischen Kommandozentrale vernetzt. Dass er Holzwanger als Außenposten in Hamburg brauchte,
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